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Ein föderatives Europa ist demokratischer

Daniel Thürer. Keystone

Föderalistische Strukturen sollen die Demokratisierung der EU fördern und den Graben zwischen Institutionen und Bevölkerung schliessen.

Über die Erfolgsaussichten sprach swissinfo mit Daniel Thürer, Professor für Europarecht an der Universität Zürich.

Im Frühjahr hat die EU ihr ehrgeiziges Projekt für eine politische Union beschlossen. Die Schweiz als einer der wenigen europäischen Nicht-EU-Staaten verfolgt die angestrebte Reform mit grossem Interesse.

Laut Daniel Thürer ist eine föderalistischen Struktur die geeignetste Lösung für ein geeintes Europa. Zuerst müsse sich die Union aber über eine europäische Verfassung einigen. Hier könnte die Schweiz wichtige Anstösse liefern.

Professor Thürer, nach der Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion will die EU auch politisch zusammenwachsen. Wird Ihrer Meinung nach der Föderalismus die geeignete Form sein, die politische Integration der europäischen Länder voranzutreiben.

Wenn wir den Föderalismus als dezentrales System betrachten, wie beispielsweise in der Schweiz oder in Deutschland, bin ich davon überzeugt, dass die geeignete Lösung in der Stärkung föderativer Strukturen liegt. Die Basis des geeinten Europas muss weiter auf der Souveränität der Nationalstaaten fussen, auch wenn in einigen Bereichen eine Zentralisierung nötig ist, etwa in der Aussenpolitik. Die EU muss auf dem internationalen Parkett vermehrt mit einer gemeinsamen Stimme auftreten können.

Zu diesem Zweck muss man zuerst eine Einigung über eine europäische Verfassung finden, in der die Kompetenzverteilung zwischen den Zentralorganen und den Mitgliedstaaten klar geregelt ist. Das Prinzip der Subsidiarität muss eine wesentlich bedeutendere Rolle spielen. Auch wenn dieses Prinzip teilweise schon in den EU-Verträgen enthalten ist, wird es im politische Alltag noch immer übergangen.

Auch wenn die EU den Föderalismus fördert, ist der Weg zu einer politischen Union noch lang und steinig. Welches sind Ihrer Meinung nach Hauptschwierigkeiten?

Die EU ist ein kontinentales Integrationsprojekt, das sich in den weltweiten Globalisierungsprozess eingliedert. In einer globalisierten Wirtschaft steht auch Europa unter Druck, geeignete Instrumente zu schaffen, um die Wirtschaftsabläufe auf regionaler Ebene zu regeln.

Andererseits ist die EU heute von ihren Bürgern zu weit entfernt. Die Bevölkerung versteht weder die Terminologie noch das politische System oder die Gesetze der europäischen Gemeinschaft. Nicht ohne Grund sehen die Bürgerinnen und Bürger in der EU vor allem eine autoritäre und bürokratische Institution. Deshalb muss die politische Union in Europa in Zukunft wesentlich demokratischer und bürgernäher werden.

Wahrscheinlich war die EU bis jetzt dazu gezwungen, sich zentrale und bürokratische Strukturen zu verleihen. Doch die Integration ist soweit fortgeschritten, dass eine stärkere Demokratisierung und Nähe zur Bevölkerung unausweichlich geworden sind.

Die Schweiz wird häufig als Vorbild für ein föderatives Europa genannt. Inwiefern könnte der helvetische Föderalismus der EU als Modell dienen?

Der Schweizer Föderalismus kann natürlich nicht einfach auf den ganzen europäischen Kontinent übertragen werden. Die EU kann kein Bundesstaat werden, sondern muss ein pluralistisches Gebilde sein und die Vielfalt der Kulturen und seiner Bewohner wahren. Die Schweiz kann aber tatsächlich als Vorbild dienen.

Eine Verfassung für das EU-Europa könnte sich an jener der Schweiz orientieren, vor allem in Hinblick auf die Machtverteilung zwischen den zentralen Institutionen und den Mitgliedstaaten. Aber auch das Schweizer Demokratiemodell könnte wichtige Anstösse geben. Langfristig liesse sich beispielsweise an eine multinationale Volksinitiative denken, durch die Bürger Vorschläge an das europäische Parlament einreichen könnten.

Die Fragen stellte: Armando Mombelli

Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob

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