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Ein Wahlkampf fast nach alter Tradition

Die Wahlberechtigten in den 26 Kantonen können ein neues Parlament wählen. Keystone

Kurz vor den nationalen Wahlen sprechen alle Anzeichen und Umfragen für eine Stabilität der bestehenden politischen Verhältnisse. Der Wahlkampf präsentierte sich eher lau. Keine Partei vermochte entscheidende Akzente zu setzen, nicht einmal die SVP.

Sollten in den letzten Monaten des Jahres nicht noch gravierende Ereignisse passieren, wird das Jahr 2011 unter ökonomischen und sozialen  Gesichtspunkten wohl als gutes Jahr in die Geschichte der Schweiz eingehen. Keine Katastrophen, ein gewisses Wirtschaftswachstum und eine Arbeitslosenrate unter drei Prozent mitsamt einem gesunden öffentlichen Haushalt.

Die Situation ist insbesondere im internationalen Vergleich sehr zufriedenstellend. Doch für die Wahlkämpfer der politischen Parteien gab sie wenig Nahrung, da dieser Zustand zu keinen extrem kontrovers diskutierten Sachverhalten führte. Bisher haben drei Ereignisse das Wahljahr bestimmt, die gemäss Meinungsumfragen aber relativ wenig Auswirkungen auf das Wählerverhalten zeigen.

Die Debatte um die Atomkraft nach dem Unglück von Fukushima wurde schnell im Keim erstickt angesichts der Tatsache, dass die Regierung einen Atomausstieg beschlossen hat. Die Sorge um den starken Franken löste sich durch das entschiedene Eingreifen der Nationalbank fast auf.

Der angekündigte Rücktritt von Bundesrätin Micheline Calmy-Rey hat noch keine echte Nachfolgedebatte entbrennen lassen, da alle Parteien erst das Ergebnis der nationalen Wahlen vom 23. Oktober abwarten wollen.

Wahlkampf mit sanften Tönen

So präsentierte sich der Wahlkampf 2011 eher lau – insbesondere im Vergleich zu den Jahren 2003 und 2007. “Ich würde nicht von einem lauen Wahlkampf sprechen, aber sicherlich war er in Bezug auf die Konfliktschärfe weniger intensiv als vor vier Jahren”, hält Silvano Moeckli, Politologe an der Universität St. Gallen, fest.

Der Wahlkampf liesse sich sogar in eine  politische Tradition der Schweiz einreihen, wie er in den 1990er-Jahren üblich war, das heisst, bevor die Schweizerische Volkspartei (SVP) mit ihren provokativen und aggressiven Kampagnen die politische Landschaft umpflügte.

Auch in diesem Jahr setzte die rechte politische Partei auf eine Anti-Ausländer- und Anti-EU-Kampagne, ohne aber dadurch die nationale Debatte dominieren zu können, wie es bei den letzten Urnengängen der Fall war.

“Die SVP  hat sich mit der Immigration das Hauptthema geschnappt, doch die SVP-Strategie wurde durch andere Events gestört, beispielsweise Fukushima. Zudem konnte die SVP ihre Kampagne nicht personalisieren, so wie vor vier Jahren, als der Verbleib von Christoph Blocher in der Regierung zu einer Frage von Leben und Tod für die Zukunft unseres Landes hinauf stilisiert wurde”, meint Silvano  Moeckli.

Diese Analyse wird von Michael Hermann, Politologe an der Universität Zürich, geteilt. Er weist zudem auf weitere Aspekte hin: “Einerseits ist das Thema der Immigration ein wenig abgenützt, andererseits haben die anderen Parteien gelernt, etwas gelassener auf die Provokationen der SVP zu reagieren, etwa auf ihre Anti-Ausländer-Wahlplakate. Ohne diese Gegenreaktion gelang es der SVP nicht, den Wahlkampf mit ihren eigenen Lieblingsthemen zu monopolisieren.”

Kein eigenes Themensetting

Die bürgerlichen Mitte-Parteien FDP und CVP  sowie die Links-Parteien SP und Grüne haben es einerseits geschafft, das Themenmonopol durch die SVP zu stoppen,  andererseits waren sie aber nicht in der Lage, eigene Themenschwerpunkte durchzusetzen oder dem Wahlkampf wichtige Impulse zu verleihen.  Es gab in dieser Hinsicht nur kleine Fortschritte.

“Die anderen politischen Parteien haben einige konkrete Punkte angesprochen, die SP beispielsweise die soziale Gerechtigkeit, die FDP die Sanierung der Sozialwerke und den Kampf gegen Bürokratie. Die CVP  hat auf Familien sowie  kleine und mittleren Unternehmungen gesetzt.  Diese Akzente sind aber bescheiden gegenüber der SVP, welche sich seit den 1990er-Jahren mit ihren Kampagnen eine richtige Marke geschaffen hat”, hält Michael Hermann fest.

Diese zaghafte Emanzipation hat auch Silvano Moeckli festgestellt. Seiner Meinung nach bestraft das Schweizer Konkordanz-System zudem die beiden historischen Parteien in der Mitte des politischen Spektrums.

“Diese Mitte-Position zwingt die Parteien FDP und CVP ständig dazu, eine integrative Rolle zu spielen, um Mehrheiten im Parlament herstellen zu können. Um Wahlkämpfe gewinnen zu können, ist aber  eine polarisierende Rolle wesentlich vorteilhafter, so wie dies auf der Linken und auf der Rechten geschieht. Mit einem ständigen Aufruf zu moderaten Tönen und Konsens lässt sich kaum gewinnen.”

Eine stabile Situation

In diesem Wahlkampf vermochte es schliesslich keine Partei, eine neue Vision für die Zukunft der Schweiz zu präsentieren oder  eine Debatte über die Rolle der Schweiz im Zeitalter der Globalisierung  zu lancieren. Wie steht es um die Beziehungen zu Europa?

“Die Schweiz lebt aus sozialer und ökonomischer Sicht im Vergleich zu vielen Ländern eine fast paradiesische Situation”, meint Michael Hermann. Die Sorge beziehungsweise Anstrengungen seien daher nicht darauf gerichtet, etwas Neues zu schaffen, sondern  den bestehenden Wohlstand zu erhalten.

Es scheint fast so, als ob sich die politischen Parteien gegenseitig neutralisiert hätten, vor allem weil die Rivalen der SVP ihre eigenen Standpunkte effizienter vertreten haben als in der Vergangenheit. Das letzte Wahlbarometer zeigt denn auch eine stabile Situation auf.

Nur die beiden neuen politischen Formationen in der Mitte – die Grünliberalen und die Bürgerlich-Demokratische Partei BDP – könnten demnach einige Prozentpunkte an Wählerstimmen gewinnen – zulasten der FDP.  Doch diese Tendenz schien  bereits vor der entscheidenden Phase des Wahlkampfs anhand der Resultate der Kantonswahlen in den letzten vier Jahren auf.

Am kommenden 23. Oktober wird das Schweizer Volk das Parlament neu wählen.

Das Parlament besteht aus zwei Kammern: Nationalrat (Volksvertretung) und Ständerät (Kantonsvertretung)

Für den Nationalrat sind 200 Mitglieder zu wählen. Diese werden nach dem Verhältniswahlrecht bestimmt, das heisst gemäss dem Stimmenanteil der politischen Parteien.

Die 200 Sitze der grossen Kammer werden je nach Grösse der Bevölkerung eines Kantons zugeteilt. Als Grundregel gilt: ein Nationalratssitz pro 36’000 Einwohnerinnen und Einwohner.

Gewählt werden zudem 45 von 46 Mitgliedern des Ständerats. Der Vertreter des Kantons Appenzell-Innerrhoden wurde bereits im April gewählt.

Jeder Kanton hat in dieser Kammer zwei Sitze; Halbkantone nur einen. Gewählt wird nach dem Mehrheitswahlrecht – mit Ausnahme von Neuenburg und Jura.

Die Politik in der Schweiz wird von vier grossen Regierungsparteien dominiert, auf die seit über einem Jahrhundert rund 80% der Wählerstimmen entfallen:

Schweizerische Volkspartei SVP (28,9% bei den Wahlen 2007), Sozialdemokratische Partei SP (19,5 %), Freisinnig-Demokratische Partei FDP. Die Liberalen (17,7 %) und die Christlichdemokratische Partei CVP (14,5%). 

Seit den 1980er-Jahren gibt es mit den Grünen eine neue politische Kraft, die im Jahr 2007 genau 9,6% der Wählerstimmen erreichte. Die Grünen haben bisher keinen Sitz im Bundesrat (Regierung).

Aus internen Abspaltungen sind jüngst zwei weitere Parteien entstanden: Die Grünliberalen (Abspaltung von den Grünen im Jahr 2004) und die Bürgerlich-Demokratische Partei (Abspaltung von der SVP im Jahr 2008).

Laut Umfragen dürften diese beiden Parteien die Gewinner der Wahlen vom kommenden 23. Oktober sein. Ihre Stimmenanteile dürften aber nicht mehr als  4 oder 5% erreichen.

Im Parlament sind zudem fünf weitere Kleinparteien vertreten, die insgesamt 5,5% der Wählerstimmen repräsentieren.

Sie stellen zwischen einem und drei Mitgliedern im Nationalrat, etwa die Lega dei Ticinesi, die Christlichsoziale Partei der Schweiz (CSP), die Evangelische Volkspartei (EVP) oder die Sozial-Liberale-Bewegung (SLB).

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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