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Etwas Gleichstellung

Nicht mehr mit dem Sondertaxi, sondern mit dem öffentlichen Verkehr - das wäre das Ziel. Keystone Archive

Mit einem neuen Gesetz soll die Gleichstellung behinderter Menschen Realität werden. Einige ihrer Anliegen flossen in die Parlaments-Debatte ein - allerdings wohl nicht genug.

Seit dem Jahr 2000 ist die neue Bundesverfassung in Kraft, und sie verspricht in Artikel 8: “Das Gesetz sieht Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Behinderten vor.”

In einem Gesetz soll nun das Recht ausgeführt werden, der Nationalrat, die Grosse Kammer, kam in seinem Entwurf den Behinderten entgegen. Er verhalf dem Gleichstellungsbüro für Behinderte und der Integration behinderter Kinder in die Volksschule zum Durchbruch.

Den Betroffenen reicht das allerdings nicht, sie sind enttäuscht. Die Gesetzesvorlage kommt nicht an die Ziele der Volksinitiative heran, welche im Juni 1999 eingereicht worden war.

Die Initiative “Gleiche Rechte für Behinderte” fordert, dass niemand diskriminiert werden darf. Nicht wegen Herkunft, Rasse oder Geschlecht, aber auch nicht wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.

Zugang ermöglichen

Die Initianten und Initiantinnen verlangen ein Gesetz, das für die Gleichstellung behinderter Menschen sorgt. Sie fordern Zugang zu Bauten und Anlagen und die Inanspruchnahme von Einrichtungen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind – zum Beispiel Zugang zu Banken oder Bahnhöfen – soweit wirtschaftlich zumutbar.

Die Abgeordneten lehnten es jedoch ab, den behindertengerechten Ausbau sämtlicher bestehender öffentlich zugänglicher Bauten und Anlagen gesetzlich vorzuschreiben. Laut Kommission hätten bereits bestehende Gebäude behindertengerecht umgebaut werden sollen.

Kein Gehör fand der Kommissions-Vorschlag, wonach Behinderte bei Diskriminierungen den Dienstleistungs-Anbieter auf Beseitigung oder Unterlassung hätten einklagen können. Der Nationalrat beliess es bei der Möglichkeit, auf Entschädigung zu klagen. Dabei sollen Gerichte höchstens 5000 Franken zusprechen können.

Freie Fahrt

Im öffentlichen Verkehr (Bahnhöfe, Haltestellen, Billettausgabe, Züge, Busse, Schiffe und Flugzeuge) müsste ebenfalls umgerüstet werden. Dafür will der Bund 300 Mio. Franken zur Verfügung stellen. Die Frist: 20 Jahre. Dasselbe gilt für Wohngebäude ab 8 Wohneinheiten und Gebäude mit über 50 Arbeitsplätzen.

Zusätzlich sollten die Behinderten ein (unentgeltliches) Beschwerde- und Klagerecht erhalten. Davon verspricht sich die Regierung, dass die Vollzugskontrolle durch die Betroffenen selbst erfolgt.

Arbeitsplätze: Der Bund gefordert

Die vorberatende Kommission der Grossen Kammer hat im Vorfeld der Debatte massive Verbesserungen zu Gunsten der Behinderten vorgeschlagen. Trotz Einigkeit im Ziel, ist sich jedoch der Nationalrat über den Weg dahin nicht einig.

Gefordert ist vor allem der Bund: Er soll die Anstellung Behinderter fördern. Private Arbeitgeber werden nicht so stark in die Pflicht genommen, wie es die Kommission vorgeschlagen hatte, dann hätten behinderte Menschen private Arbeitgeber einklagen und die Beseitigung von diskrimierenden Arbeits-Bedingungen verlangen können.

Arbeitgeber hatten sich gegen diese Vorschläge gewehrt, vor allem wegen des Nicht-Diskriminierungs-Verbots am Arbeitsplatz. Zudem ging es um Geld: Das Gastgewerbe fürchtete Milliarden-Investitionen, und eine Prozessflut.

Nicht nur Nein gesagt

Gegen den Widerstand von SVP und Liberalen hiess der Nationalrat die Errichtung eines Gleichstellungsbüros gut. Mit dem neuen Behinderten-Gleichstellungsgesetz gebe es ein Bedürfnis nach Koordination, sagte Bundesrätin Ruth Metzler. Das Büro mit vier bis fünf Stellen soll die Koordination, Information sowie das Bewusstsein innerhalb der Verwaltung fördern.

Ebenfalls gutgeheissen wurde ein Artikel im Gesetz, wonach die Kantone die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule fördern sollen. Laut der Sozialdemokratin Pascale Bruderer können auch Nichtbehinderte profitieren, denn echtes Verständnis für Behinderungen entstehe nur in direktem
Kontakt.

Behinderten-Organisationen enttäuscht

Die Behindertenorganisationen reagierten enttäuscht auf das Paket aus der Grossen Kammer. Die Durchsetzung zweier wichtiger Anliegen, das Gleichstellungsbüro und die Integration, sei zwar erfreulich, sagte Caroline Klein von der Dachorganisations-Konferenz der privaten Behindertenhilfe.

In vielen Voten sei zwar immer wieder von der Wichtigkeit von Integration und Gleichberechtigung für Behinderte gesprochen worden. Sei es aber um die konkrete Umsetzung gegangen, seien die wirtschaftlichen und finanziellen Aspekte immer wieder im Vordergrund gestanden. Es fehle der Mut, Neuland zu betreten, sagte Klein.

Das Gesetz ist ein indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative “Gleiche Rechte für Behinderte”. Die SP-Fraktion kündigte bereits an, dass sie die Volksinitiative unterstützen werde. Die Vorlage geht nun zurück an den Ständerat.

Und wie ist es ausserhalb der Schweiz?

Die rund 700’000 behinderten Menschen in der Schweiz führen denselben Kampf wie Behinderte fast überall. Einzig in den USA wurde bereits in den 70er Jahren eine umfassende gesetzliche Regelung für die Gleichstellung Behinderter verabschiedet.

In Sachen Arbeitsrecht weit fortgeschritten ist Italien: Für Betriebe mit über 50 Beschäftigten beträgt die “Behindertenquote” 7%. In Betrieben mit 35-50 Angestellten müssen mindestens zwei Behinderte arbeiten.

In Südafrika ist seit 1996 die direkte oder indirekte Diskriminierung durch den Staat verboten. Zudem wird von der neuen Verfassung auch das Recht auf Selbstbestimmung anerkannt, aber dadurch eingeschränkt, dass sie nicht auf Kosten anderer gesellschaftlicher Gruppen gehen darf.

Deutschland kennt ebenfalls eine Nicht-Diskriminierungs-Bestimmung. In Grossbritannien hat es seit den frühen 80er Jahren 14 Versuche gegeben, ein umfassendes Bürgerrechts-Gesetz gegen die Diskriminierung behinderter Menschen zu schaffen, und Teil des britischen Gesetzbuches werden zu lassen. Erfolglos.

Rebecca Vermot und Agenturen

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