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Politische Auswirkungen des Bauwirtschafts-Konflikts

Seit dem 1. Oktober können die Bauhandwerker auf keinen GAV mehr bauen. Ex-press

Die Arbeitsniederlegungen im Bausektor haben in den letzten Tagen in der Schweiz stark zugenommen. Die Bauarbeiter protestieren damit gegen den vertragslosen Zustand.

Sollte kein Kompromiss zwischen den Sozialpartnern gefunden werden, könnte 2009 die Verlängerung des Abkommens über den freien Personenverkehr mit der EU in Frage gestellt sein.

“70% der auf dem Bau Arbeitenden sind gewerkschaftlich organisiert. Sollten wir diese Auseinandersetzung verlieren, könnte dies auch Auswirkungen auf andere Sektoren haben, da ein Teil der Arbeitgeber auch dort strengere Bestimmungen einführen möchte “, meint Jean-Claude Rennwald, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Unia und sozialdemokratischer Nationalrat.

Weil sich die Sozialpartner über gewisse Anpassungen nicht einigen konnten, wurde der Gesamtarbeitsvertrag, in diesem Gewerbe Landesmantelvertrag genannt, vom Schweizerischen Baumeister Verband auf Ende September gekündigt.

So befinden sich die 80’000 Beschäftigen der Baubranche seit dem 1. Oktober in einem vertragslosen Zustand. Die Baumeister haben sich jedoch verpflichtet, die bisher gültigen Arbeitsbedingungen aufrecht zu erhalten.

Beunruhigte Volkswirtschafts-Ministerin

Diese Situation beunruhigt auch die Volkswirtschafts-Ministerin Doris Leuthard. Sie hatte Ende September erklärt, das Gesetz zur Öffnung der Grenzen für Arbeitskräfte in Europa und die flankierenden Massnehmen reichten aus, um Lohndumping zu verhindern.

Ihrer Ansicht nach sind die getrübten Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern ein Unsicherheitsfaktor, der sich negativ auf die Personenfreizügigkeit auswirken könnte.

Die Konflikte in der Bauwirtschaft könnten sich tatsächlich auf das politische Feld ausweiten und damit die Erweiterung der Freizügigkeit im Personenverkehr mit der Europäischen Union (EU) auf die neuen EU-Länder Bulgarien und Rumänien im Jahr 2009.

In diesem Fall könnte die Schweiz verlieren. Durch eine negativ verlaufende Abstimmung könnten auch die anderen bilateralen Abkommen mit der EU gefährdet sein.

Denn eines ist gewiss: Die Ausweitung der Abkommen untersteht dem fakultativen Referendum und könnte Gegenstand einer Volksabstimmung werden. 50’000 eingereichte Unterschriften genügen.

Die Rechtskonservativen könnten versuchen, so ihre Vision einer unabhängigen, autarken Schweiz durchzusetzen. Aber auch die andere Seite des politischen Spektrums, die Linke, könnte das Abkommen ablehnen.

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GAV

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) gilt für ein Unternehmen oder einen gesamten Wirtschafts-Sektor und wird zwischen Gewerkschaften und dem Arbeitgeber oder dessen Verband verhandelt. Ein GAV enthält Bestimmungen betreffend Unterzeichung, Vertragsbedingungen und Auflösung eines einzelnen Arbeitsvertrags, Klauseln über die Rechte und Pflichten der Vertragspartner und Auflagen betreffend Überwachung und Umsetzung des Vertrags. In gewissen Berufsgattungen, in denen…

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Zentrales Element

Die Linke und die Gewerkschaften hatten sich mehrheitlich dafür eingesetzt, dass die Personenfreizügigkeit 2002 in Kraft treten konnte. Als Voraussetzung dafür galt jedoch die Einführung flankierender Massnahmen.

Der Gesamtarbeitsvertrag ist in den Augen dieser Kreise ein zentrales Element zum Schutz der Arbeitnehmenden. Die flankierenden Massnahmen reichen ihrer Ansicht nach nicht aus.

Kurz gesagt: Ohne GAV gibt es 2009 keine Freizügigkeit. “Wenn es in diesem GAV-Konflikt keine Lösung gibt, werden die Arbeitnehmenden im Jahr 2009 ziemlich zurückhaltend abstimmen”, schätzt Jean-Claude Rennwald. “Es ist zwar noch ein wenig früh, zu sagen, die Gewerkschaften würden ein Nein empfehlen. Aber die Möglichkeit besteht.”

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Referendum

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Das (fakultative) Referendum erlaubt Bürgerinnen und Bürgern, das Volk über ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz entscheiden zu lassen. Falls das Referendumskomitee innerhalb von 100 Tagen 50’000 gültige Unterschriften bei der Bundeskanzlei einreichen kann, kommt es zu einer Abstimmung. Falls das Parlament Änderungen in der Bundesverfassung vornimmt, kommt es zu einem obligatorischen Referendum. Beim fakultativen Referendum…

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Gefährliches Spiel

Laut dem Direktor des Instituts für politische Wissenschaften der Universität Genf, Pascal Sciarini, könnte diese Drohung auch eine Kriegslist sein. Sie habe bereits in der Frage der flankierenden Massnahmen verfangen.

“Aber das Spiel könnte für die Linke gefährlich sein,” erklärt er. “Denn, wenn die Arbeitgeber nicht nachgeben und die Linke ihre Drohung wahrmachen sollte, würde sie eine Verbündete der Rechtskonservativen. Hat sie den Mut, bis dorthin zu gehen?”, fragt Sciarini.

Der Politologe konstatiert zwischen den Sozialpartnern ein grösseres Konfliktpotential als bei der Reformierung der Sozialwerke wie der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV).

“Man merkt, die Parteien sind weniger kompromissbereit als früher. In diesem Zusammenhang könnten die Arbeitgeber versucht sein, mit ihrer Kompromisslosigkeit ein konservatives, liberales Rechtsbündnis unter der Führung der Schweizerischen Volkspartei SVP) zu fördern.”

“Es braucht Zeit”

Serge Oesch, Direktoriumsmitglied des Schweizerischen Baumeisterverbandes, hofft, dass eine Vereinbarung zum Gesamtarbeitsvertrag gefunden werden kann. Aber es sei heute schwierig zu sagen, wie viel Zeit das brauche.

Jean-Claude Rennwald zeigt sich auch relativ zuversichtlich, dass der Konflikt positiv bewältigt werden könnte. Die bevorstehenden Wahlen seien an der momentanen Situation nicht ganz unschuldig, glaubt er.

Für Pascal Sciarini gibt es keine Garantie für ein Happy End. “Meiner Ansicht nach nimmt man die Gefahr eines Scheiterns in Kauf. Keines der beiden Lager will den Eindruck vermitteln, nachzugeben. Und wegen ihrer internen Differenzen kann man auch nicht erwarten, dass sich die Regierung einschaltet.”

swissinfo, Pierre-François Besson
(Übertragung aus dem Französischen: Etienne Strebel)

Die Arbeitsniederlegungen im Bausektor begannen am Freitag auf der Gotthard-Baustelle der Neuen Eisenbahn Alpen-Transversale (NEAT). Am Montag fanden Warnstreiks in Genf, Bern und Neuenburg statt. Am 5. November treffen sich Arbeitgeber und Gewerkschaften zu Gesprächen. Bis dann sind weitere Streiks geplant.

Die Sozialpartner haben Differenzen bei der Erneuerung des nationalen Gesamtarbeitsvertrags. Der Arbeitnehmerverband will mehr Flexibilität, um Winter-Arbeitslosigkeit zu verhindern. Er möchte auch eine Leistungslohnkomponente einführen.

Die beiden Gewerkschaften Unia und Syna lehnen jede Verschlechterung der Arbeitsbedingungen ab. Diese seien für die Bauarbeiter schon hart genug.

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