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Schwarz-Gelb oder Grosse Koalition?

Reuters

Angela Merkel konnte die Bundestagswahl entspannter angehen als ihr Herausforderer Frank-Walter Steinmeier. Zwar könnte es eng werden mit ihrer Wunschkoalition von Union und FDP, doch Kanzlerin bliebe sie auch in einer Grossen Koalition.

Einen so spannungsarmen und inhaltsleeren Bundestagswahlkampf gab es in der Bundesrepublik schon lange nicht mehr.

Und das trotz Wirtschaftskrise, trotz wachsenden Arbeitslosenzahlen, sozialen Spannungen und anderen grossen Konfliktfeldern.

Ob in der Energie- oder der Finanzpolitik, in der Aussen- Sozial- oder Gesundheitspolitik: an politischen Streitpunkten fehlt es den Parteien in Deutschland wirklich nicht.

Kuschelwahlkampf

Und trotzdem sind die Bürgerinnen und Bürger froh, dass ein Wahlkampf zu Ende geht, den die fünf Regierungsparteien fast lautlos über die Bühne brachten, entschlossen, dem politischen Gegner keine Angriffsflächen zu bieten und thematisch nichts auf jene kritischen Punkte zu bringen, die Emotionen wecken und Wähler mobilisieren könnten.

So duellierten sich CDU/CSU und Sozialdemokraten nicht mit Florett und Degen, sondern tupften allenfalls mit Wattestäbchen in den Wunden des politischen Wettbewerbers, mit dem man immerhin vier Jahre lang in einer Grossen Koalition zusammengearbeitet hat. Und das sogar leidlich erfolgreich, speziell in der Finanz- und Wirtschaftskrise.

Da agierte das Kabinett Merkel zwar weniger hektisch als andere Länder, aber überlegt und angemessen, und vor allem so, dass keine unnötige Panik im Land geschürt wurde. Ohne diese Krise könnten Merkel und ihr Herausforderer Frank-Walter Steinmeier dem Land sogar stolz einen ausgeglichenen Haushalt präsentieren.

Doch nun muss Deutschland in den nächsten Jahren eine Rekordverschuldung meistern. Und zu den Lehren der Wirtschaftskrise gehört eben auch die Einsicht, dass der Staat das Primat des Handelns verloren hat und sich von “systemischen” Banken, die versagt haben, letztlich sogar erpressen lassen muss.

Ohne grosse Töne

Das soll sich bekanntlich ändern. Doch bei den Bürgerinnen und Bürgern hat die beobachtete Hilflosigkeit des Staates tiefe Spuren hinterlassen. Insofern verzichteten Union und SPD im Wahlkampf zurecht auf einen “blendenden” Eindruck: Grosse Worte, grosse Töne – es wäre in den Augen des Volkes einfach nur lächerlich gewesen.

Dazu kommt, dass die Jahre in der Grossen Koalition definitiv deutlich gemacht haben, wie nah sich die beiden Volksparteien programmatisch gekommen sind. Und wie hohl dementsprechend die Kampfparolen alter Zeiten tönen.

Dass die Gewerkschaften in diesem Jahr erstmals keine Wahlempfehlung für die SPD abgegeben haben, ist ein Indiz dafür, dass die Problemstellungen komplizierter geworden sind – und sich im übrigen die Parteienlandschaft in Deutschland nachhaltig verändert hat.

Neue Parteienlandschaft

Die Bundesrepublik hat es – nach der Etablierung der neuen Linken von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi nachhaltig mit einer 5-Parteienlandschaft zu tun und also mit einem Gebilde, das sehr viel unkalkulierbarer geworden ist für die Machtstrategen der Grossen.

Möglich, dass es am 27. September noch einmal hauchdünn reicht für das Modell Gross/Klein, also für Union und Liberale. Aber wenn, dann vermutlich nur, weil die so genannten Überhangmandate den Ausschlag geben könnten, eine Besonderheit des deutschen Wahlrechts, die das Verfassungsgericht beanstandet hat und bis spätestens 2013 korrigiert werden muss.

Doch das ändert nichts daran, dass sich Deutschland daran gewöhnen muss, entweder von einer Grossen Koalition regiert zu werden oder von einem Dreier-Bündnis.

Wer mit wem ist offen

Für dieses Szenario ist für diese Bundestagswahl jedoch keine der fünf im Bundestag vertretenen Parteien gerüstet. Was sich darin äussert, dass die FDP jüngst eine Ampelkoalition von Rot-Gelb-Grün ebenso kategorisch ausgeschlossen hat wie die Grünen die Jamaika-Variante mit Schwarz-Gelb-Grün.

FDP wie Grüne argumentieren gleich: Man wollte sich nicht zum Mehrheitsbeschaffer degradieren einer CDU- bzw. SPD-geführten Regierung. Weil die SPD vorläufig mit der Linken noch nicht zusammenarbeiten will, kann es folglich nach der Wahl nur eine Grosse Koalition geben, wenn es für Schwarz-Gelb nicht reichen sollte.

Für Grüne und Linke wäre das halb so schlimm: Man würde mit geneigten Kräften in der SPD zielstrebig das rot-rot-grüne Projekt zimmern, und die Grosse Koalition wohl schon vor Ende der Legislatur in Rente schicken.

Angela Merkel hat davor gewarnt, aber nichts getan, um – vorsorglich – den Boden für eine Jamaika-Koalition zu bereiten. Die Kanzlerin wird, aller Voraussicht nach, also an der Macht bleiben. Mit wem, ist offen, und offen auch, für wie lange.

Fritz Dinkelmann, Berlin, swissinfo.ch

Am 27. September waren 62 Millionen Deutsche im In- und Ausland aufgerufen, die Abgeordneten des 17. Deutschen Bundestags zu wählen.

Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier werden dann den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin bestimmen.

Im Parlament sind 598 Sitze zu vergeben. Bundestagswahlen finden alle vier Jahre statt.

Zur Zeit sind im Bundestag sechs Parteien vertreten: CDU, CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen sowie Die Linke.

Am Wahltag standen 80’000 Wahllokale in 299 Wahlkreisen zur Verfügung.

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