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Schweiz-EU: Eine längerfristige Vorstellung entwickeln

Jacques de Watteville ist sich schwierige Aufstiege gewohnt. DR

Steuerwesen, Landwirtschaft, Elektrizität... Die schwierigen Dossiers zwischen der Schweiz und der EU häufen sich. Wie soll man damit umgehen? swissinfo.ch hat die Meinung des Schweizer Botschafters bei der EU, Jacques de Watteville, eingeholt.

Er hat schon alle 4000er-Gipfel in den Schweizer Bergen erklettert, oder jedenfalls fast, bevor er die Gipfel der Schweizerischen Diplomatie erreichte.

Jacques de Watteville, Spross einer bernischen Patrizierfamilie, 58 Jahre alt, ist seit Dezember 2007 der Chef der Schweizer Mission bei der Europäischen Union.

swissinfo.ch: Die 27 EU-Staaten zaudern, sich auf eine Waffenruhe mit der Schweiz einzulassen. Der Hauptgrund sind die kantonalen Unternehmenssteuern. Signalisiert dies Misstrauen Bern gegenüber?

Jacques de Watteville: Einige Staaten haben den Eindruck, dass die Lösung, die gefunden wurde, ihren Anliegen nicht genügend Rechnung trägt.

Ausserdem gibt es ein weiteres Problem, nämlich, dass wahrscheinlich Anfang 2010 eine neue Kommission ihre Arbeit aufnehmen muss, bevor man das Dossier schliessen kann.

swissinfo.ch: Muss man das Ende der Steueramnestie in Italien abwarten? Italien agiert zur Zeit recht aggressiv.

J. de W.: Es ist möglich, dass das auch eine Rolle spielt.

swissinfo.ch: Die kantonale Steuerhoheit stellt im Moment den sichtbaren Teil des riesigen Eisbergs dar, dessen unsichtbarer Teil aus der Zinsbesteuerung und dem Informationsaustausch auf Verlangen besteht. Wird es nicht sehr schwierig, alle drei wichtigen Punkte zu verhandeln?

J. de W.: Es ist nicht ein Eisberg, denn die zwei anderen Dossiers sind ja nicht versteckt. Aber im Moment gibt es noch kein Mandat, mit der EU über die Zinsbesteuerung zu verhandeln oder einen Beschluss zu fassen, was den Informationsaustausch angeht. Wir müssen uns auf diese Eventualitäten vorbereiten.

swissinfo.ch: Befürchten Sie nicht, dass Luxemburg und Österreich den Druck, das Bankgeheiminis zu lockern, auf die Schweiz abschieben, indem sie sagen, wir gehen nur soweit, wie die Schweiz geht?

J. de W.: Das können wir nicht ausschliessen. Aber die Schweiz hat gute Karten in der Hand. Die EU anerkennt, dass unser Abkommen zur Zinsbesteuerung und das System der Quellensteuer gut funktioniert. Die Schweiz hat 2008 fast 500 Millionen Franken an die Mitgliedstaaten der EU zurückgegeben.

swissinfo.ch: Und wenn Luxemburg und Österreich ihr Ziel trotzdem erreichen und die Schweiz in die inneren Angelegenheiten der EU hineinziehen?

J. de W.: Der Dialog mit unseren Partnern kann sehr hart werden. Das heisst, um die Interessen der Schweiz optimal zu vertreten, müssen wir realistisch sein und die Entwicklungen vorhersehen, eine längerfristige Vorstellung haben.

swissinfo.ch: Orientiert man sich in Richtung einer dritten bilateralen Verhandlungsrunde, die auch andere Dossiers beinhalten wird: Elektrizität, Landwirtschaft, Finanzdienstleistungen, usw.?

J. de W.: Es ist wahr, im Moment sind viele wichtige Themen in der Diskussion oder werden verhandelt. Es stimmt auch, dass die EU alle Dossiers gleich behandelt, sie hat einen Parallelismus etabliert.

Aber die Art des parallelen Verhandelns hat aus Schweizer Sicht immer existiert: Es ist für uns ausgeschlossen, dass wir in diesen Dossiers vorankommen, in denen die EU die Klägerin ist, und nicht gleichzeitig in diesen, an denen die Schweiz interessiert ist.

Wenn wir bestimmte Schritte in einem unserer Dossiers unternehmen, das den Finanzplatz Schweiz betrifft, müssen wir darauf achten, dass wir auch Gegenleistungen erzielen, die den Finanzplatz stützen. Zur Zeit ist es allerdings nicht geplant, eine juristische Verbindung zwischen allen Dossiers zu machen.

swissinfo.ch: Die EU fordert, dass alle Dossier uneingeschränkt und automatisch wiederaufgenommen werden, um sie den geltenden Vorschriften der Gemeinschaft und deren Entwicklungen anzupassen. Ist das für die Schweiz denkbar?

J. de W.: Für die Union ist klar, dass sich die Schweiz an die Regeln halten muss, wenn sie an bestimmten Sektoren des Binnenhandels teilnehmen will. Die Schweiz hat auch ein Interesse daran, dass die Reglen homogen sind.

Die Herausforderung ist nun, Mechanismen zu finden, die uns erlauben, dieses Ziel zu erreichen und gleichzeitig die Souveränität der Schweiz und das Funktionieren der schweizerischen Institutionen zu wahren.

swissinfo.ch: Welche Mechanismen?

J. de W.: Mehrere Grundsätze in den bilateralen Verhandlungen in Bezug auf das Europäische Recht wurden von der Schweiz formuliert; zum Beispiel, dass die Souveränität der Schweiz und die Institutionen respektiert werden und dass die Schweiz an der Ausarbeitung neuer Regeln beteiligt ist.

Für den Fall, dass sich der heutige Zustand nicht weiterentwickeln lässt und kein Gleichgewicht erreicht wird, kann im Rahmen eines Schiedsgerichts entschieden werden.

swissinfo.ch: Aber wie beginnt man die Verhandlungen zu einer Einigung, wenn man feststellt, dass sie an den europäischen Reglementen scheitern wird? In der Frage der Elektrizität zum Beispiel ist man steckengeblieben…

J. de W.: In allen Verhandlungen geht es zuerst darum, den jetzigen Zustand zu bestimmen, auf dem die Einigung zu Stande kommen soll und nachher zu sehen, wo die spezifischen Probleme sind, die eine sofortige Lösung verlangen: Übergangsphasen oder spezielle Ordnungen. Wenn die zwei Parteien ein Interesse an der Einigung haben, gibt das Spielraum für Kompromisse.

swissinfo.ch: Sagen Ihnen Ihre Amtskollegen nie, dass die Schweiz ihre Interessen viel einfacher vertreten könnte, wenn sie Mitglied der EU wäre?

J. de W.: Die Verhandlung und die Verwaltung der bilateralen Verträge stellt ein grosses und komplexes Geschäft dar, das viel Zeit in Anspruch nimmt. Was uns in die EU führen würde, wäre der Wille, die Prozeduren zu vereinfachen und Automatismen zu etablieren. Aber für die Schweiz ist der Respekt der Souveranität entscheidend.

swissinfo.ch: Das könnte die kommenden Verhandlungen erschweren?

J. de W.: Ja. Wenn die EU hart bleibt, was die Automatismen betrifft, dann ist es möglich, dass die Schweiz entscheidet, auf den Abschluss einiger Abkommen zu verzichten.

Sie will ihre Souveräntität oder ihre Eigenheiten behalten. Es gibt politische Realitäten, die man sich bewusst sein muss. Der bilaterale Weg hat auch seine Grenzen.

Tanguy Verhoosel, Brüssel, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Eveline Kobler)

Der Wirtschafts-Experte Jacques de Watteville ist seit Dezember 2007 Leiter der Schweizer Mission bei der EU in Brüssel.

Die Nomination geschah zu einem Zeitpunkt, als sich die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU wegen der Diskussionen um kantonale Unternehmens-Steuern verhärteten.

Der 58-Jährige war bereits Ende der 1980er bis Anfang der 1990er-Jahre als Vertreter des Aussenministeriums in Brüssel.

Als Experte war er damals dabei, als Bern und Brüssel um den eventuellen Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR verhandelten.

Auch die Angriffe der OECD sind ihm aus seiner Zeit als Chef des Finanz- und Wirtschaftsdiensts des Aussenministeriums geläufig (1997 bis 2003), als diese Organisation die Schweiz wegen “schädlicher Steuerpraktiken” auf eine Schwarze Liste zu setzen drohte.

Der Konflikt zwischen Bern und Brüssel dreht sich um die Steuersysteme einiger Kantone in der Schweiz.

Die EU stört sich an Steuerprivilegien, welche die Kantone Zug, Schwyz, Obwalden und andere ausländischen Unternehmen gewähren.

Aus Sicht der EU verletzen diese das Freihandels-Abkommen von 1972.

Bern geht davon aus, dass die Besteuerung von so genannten Briefkastenfirmen, gemischten Gesellschaften und Holdings nicht unter das Freihandelsa-Abkommen fallen, denn es betreffe nur den Handel mit gewissen Gütern (verarbeitete Agrar- und Industrieprodukte).

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ihrerseits hat nichts an den Steuersystemen der Schweizer Kantone auszusetzen.

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