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Schweizer Juden kritisieren Israel

Palästinensische Schüler in Ost-Jerusalem: Wird ihre Generation jemals im Frieden leben? AFP

Eine Gruppe Schweizer Juden, verstärkt durch ein paar jüdische Stimmen aus Deutschland, Österreich und Israel, appelliert an Israel, die Menschenrechte einzuhalten und die Besetzung der Palästinensergebiete zu beenden. Der Aufruf wird weltweit verbreitet.

“Ich sehe mich Schach spielen. Ich bin an der Reihe und muss meine Dame bewegen. Doch welchen Zug ich mit ihr auch mache, ich verliere sie auf jeden Fall.” Seit dem jüngsten Gaza-Krieg lässt dieses symbolische Bild Jochi Weil-Goldstein nicht mehr los.

Die jüngste Entwicklung im Nahen Osten treibt den ehemaligen Zürcher Lehrer, seit 30 Jahren Projektleiter für die besetzten Gebiete bei der Nichtregierungs-Organisation Medico International Schweiz und Importeur von palästinensischem Olivenöl in die Schweiz, “in immer grössere Verzweiflung”.

Deshalb die Idee des Appells “an die 13 Millionen Jüdinnen und Juden in der Welt (davon leben 5 in Israel und 8 in anderen Ländern) für ein Israel, das die Menschenrechte respektiert”.

Die Seele verloren

Die Formulierung ist so einfach wie die Umsetzung schwierig ist. “Wir fordern das Ende der Besetzung, der Kolonisierung und der Blockade der Palästinensergebiete. Wir wollen, dass alle Menschen in Israel und Palästina ein würdiges und sicheres Leben führen können.”

Denn die Besetzung “zerstört die Perspektiven der Besetzten und die Seelen der Besetzer”, sagt Jochi Weil-Goldstein, der zusammen mit zwei Erstunterzeichnern den weltweiten Appell vor den Medien in Bern präsentierte.

Shelley Berlowitz von der “Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina” erinnert sich, dass sie “mit dem Bewusstsein aufgewachsen sei, dass der Staat Israel eine exemplarische Demokratie ist und allen Einwohnern – inklusive den Arabern in der Region – ein würdiges und freies Leben ermöglicht”.

Aber heute erkennt Berlowitz dieses Land nicht wieder, für das sie von 1974 bis 1976 stolz Militärdienst geleistet hat. Jenes Land, wo die Palästinenser “Bürger zweiter Klasse” seien und ihre Würde, ihre Zukunftsperspektiven, ihr tägliches Leben “jeden Tag mehr kontrolliert und erwürgt sehen, geopfert auf dem Altar der nationalen Sicherheit Israels”.

Eine Premiere in der Diaspora

Zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs gehört auch Philippe Lévy. “Es gab noch nie eine derartige Inititiative”, sagt der ehemalige Top-Handelsdiplomat gegenüber swissinfo.

“Traditionellerweise sind alle Juden solidarisch mit Israel, was Land und Regierung auch immer tun. Aber jetzt ist eine solche Haltung nicht mehr zu unterstützen, eine Evolution des Nachdenkens ist notwendig.”

Und was denken die 18’000 Juden in der Schweiz? “Das werden wir sehen”, sagt Lévy. “Wir haben die Initiative eher diskret lanciert. Jetzt, wo die Medien darüber sprechen, werden wir sicher Reaktionen auf beiden Seiten haben.”

Wenn sein Freund Jochi Weil-Goldstein bereits quasi als “Verräter” bezeichnet wurde, ärgert das den Ex-Diplomaten nicht, der sich gegenüber dem Staat Israel in keiner Weise verpflichtet fühlt und auch nicht israelischer Staatsbürger ist.

“Die Tatsache, dass 80% der israelischen Bevölkerung die gleiche Religion wie ich haben, ist für micht kein bestimmendes Element”, betont Lévy. “Und wir sind überzeugt: Wenn unsere Ideen verwirklicht würden, wäre dies im Interesse der 80% Juden in Israel wie auch aller Juden auf der ganzen Welt.”

Drei Jahre

Wie viele Juden auf der ganzen Welt glauben die Initianten, mit ihrem Appell zu erreichen? Eine entscheidende Frage, die aber niemand von ihnen zu beantworten wagt. Denn die Unterstützung, welche die Diaspora Israel gewährt oder nicht, wird auch von der Entwicklung vor Ort abhängen. Und diese kann niemand voraussagen.

Deshalb geben sich die Initianten drei Jahre Zeit zum Sammeln von Unterschriften. Unterschriften, die auch das Friedenslager in Israel selbst stärken sollten, das derzeit eher an Boden verliert, wenn man die fast “heilige Einheit” in Sachen Offensive in Gaza und die Ergebnisse der jüngsten Wahlen in Betracht zieht.

“Diese Entwicklungen beunruhigen uns, auch wenn sie verständlich sind”, sagt Philippe Lévy. Er selbst glaubt indessen weiterhin an den Verhandlungsweg und ist der Ansicht, dass sogar eine Lösung mit der Hamas möglich sei.

“Einfach zu sagen, das seien Extremisten, Terroristen, mit denen man nicht spricht. So gibt es nie eine Lösung”, betont der Alt-Diplomat.

Genfer Initiative

Bisher haben die Initianten des Aufrufs noch keine offizielle diplomatische Unterstützung der Schweiz beantragt. Sie glauben nicht, dass ihre Aktion Einfluss auf die Beziehungen zwischen der Schweiz und Israel haben könnte.

Von der Schweiz ging schon die so genannte Genfer Initiative aus, ein alternativer Friedensplan ehemaliger israelischer und palästinensischer Minister, der am 1. Dezember 2003 mit grossem Pomp in Genf unterzeichnet wurde, mit Billigung der UNO-Spitze und einiger amtierenden und pensionierten Staatschefs.

Ein lobenswertes Unterfangen, das heute aber offenbar in Vergessenheit geraten ist. “Es ist klar, dass die Wirkung der Genfer Initiative begrenzt war, weil es eine private Nichtregierungs-Initiative war”, sagt Lévy. “Dennoch glaube ich, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.”

swissinfo, Marc-André Miserez
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)

Rechtsrutsch. Nach den Parlamentswahlen wurde Likud-Führer Benjamin Netanyahu am 20. Februar beauftragt, bis am 3. April eine neue Regierung zu bilden. Er stützt sich auf eine Koalition von 65 (von 120) Abgeordneten: 27 Likud, 15 Israel Beitenu (ultranationalistisch und laizistisch), 23 von kleinen religiösen Parteien.

Die Arbeiterpartei wurde für eine Allianz angegangen, die Kadima Partei hat die Koalitionsofferte abgelehnt. Die neue Regierung dürfte eine der rechtesten in der Geschichte des Landes sein.

Zweimal mehr Siedler. Die israelischen Behörden arbeiten laut einer Studie der Gruppe Frieden Jetzt an Plänen für den Bau von 73’000 Wohnungen im besetzten Westjordanland. Sollte das Vorhaben umgesetzt werden, verdopple sich die Zahl jüdischer Siedler in dem Palästinensergebiet auf 600’000. Genehmigt worden sei bis jetzt der Bau von 15’156 Einheiten.

Das Wohnungsbauministerium erklärte, die siedlerkritische Gruppe mache “aus nichts eine Riesensache”. Bei den Zahlen handle es sich um das Baupotenzial. Was tatsächlich genehmigt werde, hänge von politischen Entscheidungen ab. Ein massiver Ausbau jüdischer Siedlungen kann für die Gruppe die Chancen einer Friedensregelung zerstören, die auf einer Zwei-Staaten-Lösung mit den Palästinensern basiert.

Seit der Besetzung 1967 haben sich im Westjordanland 300’000 jüdische Siedler niedergelassen, davon 200’000 in 12 Quartieren in Ost-Jerusalem.

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