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Viva il Ticino!

Das neue Bundesstrafgericht kommt nach Bellinzona - Computerisierte Abbildung des möglichen Standortes. Keystone

Bellinzona wird Heimat des neuen Bundes-Strafgerichts. Spannung herrscht noch in Sachen Verwaltungs-Gericht: Erhält Freiburg oder St. Gallen den Zuschlag?

Die Debatte im Nationalrats-Saal war ebenso spannend wie das Fussball-Spiel Costa Rica – Brasilien. Der Lärmpegel im Saal fast so hoch wie im Stadion in Korea.

Diskutiert wurde über die Standorte der neuen Bundesgerichte. Sollten diese in Freiburg und Aarau oder in St. Gallen und Bellinzona eingerichtet werden? – Das war die Frage. Der Entscheid: Freiburg und Bellinzona.

Jahrhundert-Entscheid

“Es kommt nicht oft vor, dass der Bund neue und dauerhafte Institutionen schafft”, erklärte Justizministerin Ruth Metzler.

Gerichte würden selten umziehen, so der Tessiner Freisinnige Fabio Abate: “Es ist wichtig zu betonen, dass Lausanne 1874 und Luzern, also die Zentralschweiz, 1911 Standorte der Bundesgerichte geworden sind. Diese Gerichte sind seither in diesen beiden Städten geblieben.”

Effizienz versus Föderalismus

Der Fokus der emotionalen Voten war entweder auf die Effizienz der Verfahren und der Abläufe (Freiburg und Aarau) oder aber auf staatspolitische und föderalistische Argumente (Ost- und Südschweiz) gerichtet.

Mit dem Entscheid für Bellinzona wurde das sonst oft stiefmütterlich behandelte Tessin umarmt. “Ich bin sehr, sehr erfreut über die Wahl des Tessins”, sagte die Präsidentin der Tessiner Kantonsregierung, Patrizia Pesenti, nach der Debatte.

Der Entscheid für das Tessin kam dank fleissiger Päcklipolitik zustande. Die Bündner Kollegen und Kolleginnen unterstützten ihre Nachbarn kräftig. Im Austausch dafür werden wohl die Tessiner den Bündern unter die Arme greifen, wenn es darum geht, ob das Sprachen-Institut in den Kantonen Bern, Freiburg, Solothurn oder eben in Chur anzusiedeln ist.

Es darf gelacht werden

Die Voten für oder wider den einen oder anderen Standort waren an diesem sonnigen Donnerstag durchaus phantasievoll. So hielt Fabio Abate dem Argument, das Tessin sei nur schwer erreichbar, entgegen: “Ich erlaube mir, daran zu erinnern, dass die Schweiz nicht riesig ist, nur weil die südliche Grenze in Chiasso und nicht am Gotthard ist. Bellinzona ist kein Standort in einer vergessenen Republik der ehemaligen Sowjetunion.”

Die Grüne Anne-Catherine Ménétrey-Savary brachte das Plenum mit einem “unverschämten” Hinweis zum lachen: “Das Strafgericht in Bellinzona anzusiedeln heisst, es in die Nähe von Lugano zu bringen – eine Stadt, in welcher Geldwäscherei kein Fremdwort ist.” Überhaupt sei das Ferne immer auch gleichzeitig irgendwo in der Nähe.

Faire Verlierer

Verliererin ist Aarau, “der schöne Kanton mit den einmaligen Flusslandschaften, den wunderbaren Jurahöhen und den malerischen Kleinstädten, in denen Demokratie seit Jahrhunderten gelebt wird, hätte es auch verdient: Mit vielen Aufgaben und Pflichten dient er der Eidgenossenschaft, darunter sind auch drei sehr wenig beliebte Atomkraftwerke – Beznau I und II sowie Leibstadt -, das Zwischenlager, die Neat, die A1, A2 und A3”, wie die Freisinnige Christine Egerszegi-Obrist für ihren Kanton warb.

Der Kanton kritisierte die staatspolitische Argumentation als überspitzt. Sachliche Argumente seien zu wenig berücksichtigt worden, beklagte Regierungsrat Kurt Wernli. Mit dem unverhältnismässigen Hochspielen des Föderalismus nehme man Mehrkosten bewusst in Kauf.

92:92 – oder im Lande der Wilden

In Sachen Bundes-Verwaltungsgericht war der Rat unentschieden. Ratspräsidentin Liliane Maury Pasquier fällte den Stichentscheid zu Gunsten Freiburgs. Nicht ohne alle Kantone zu rügen: “Ich hätte es bevorzugt, wenn die Kantone zusammen eine Lösung gefunden hätten, statt sich sinnlos zu konkurrenzieren.”

Bei der Wahl zwischen Freiburg oder St. Gallen wurde auch mit dem Argument Distanz gefochten. Den 250 Angestellten und ihren Familien mochte manch ein Politiker den Umzug nicht zumuten, was Anne-Catherine Ménétrey-Savary in den Clinch brachte, ob sie nun weinen oder lachen solle. “Imaginez cette catastrophe! Aller vivre à Saint-Gall! Comme si c’était le bout du monde, un pays de sauvages.”

Lateinische Schweiz bevorzugt

Mit dem Entscheid für Bellinzona und Freiburg brach der Nationalrat mit dem bisherigen Konsens, dass eines der Gerichte in der lateinischen und das andere in der deutschsprachigen Schweiz angesiedelt werden soll.

Weil die Kammer der Kantonsvertreter im Frühling für St. Gallen als Heimat für das Verwaltungsgericht optiert hatte, muss diese nach dem nationalrätlichen Entscheid noch einmal über die Bücher und zwar noch diese Session.

Rebecca Vermot

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