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Das Leiden in Gaza erzürnt die arabische Welt

Die Wut ist gross in der arabischen Welt, wie hier in der jordanischen Hauptstadt Amman. Reuters

Trotz der steigenden Zahl von Toten setzt Israel die Luftangriffe auf Ziele im Gazastreifen fort, ein Waffenstillstand ist nicht in Sicht. Gegenüber swissinfo erklärt die Schweizer Nahostkennerin und Journalistin Karin Wenger die Empörung der arabischen Staaten.

Am letzten Wochenende hat Israel seine Luftangriffe auf Gaza begonnen. Dies, nachdem am 19. Dezember ein sechsmonatiger, von Ägypten ausgehandelter Waffenstillstand abgelaufen war und die Hamas ihre Raketenangriffe aus dem Gazastreifen, der unter der Blockade Israels leidet, intensiviert hatte.

Seit letztem Samstag wurden laut palästinensischen Angaben über 400 Menschen in Gaza getötet, 1700 erlitten Verletzungen. Bei Raketenangriffen auf israelisches Gebiet sollen vier Menschen ihr Leben verloren haben.

Inwischen verdichten sich die Hinweise auf eine bevorstehende Bodenoffensive Israels.

Die Schweizer Journalistin Karin Wenger, die zur Zeit in der syrischen Hauptstadt Damaskus lebt, reist regelmässig nach Gaza und ins Westjordanland.

swissinfo: In welchem Mass widerspiegeln die Proteste, die zur Zeit gegen die israelischen Luftangriffe stattfinden, die Stimmung in der arabischen Welt?

Karin Wenger: In Syrien haben mehrere Proteste stattgefunden, die von verschiedenen Gruppen organisiert wurden. Man muss wissen, dass nicht nur die Demonstranten wütend sind. Alle erzählen die gleiche Geschichte – Wut und Frustration sind gross. Frustration über die westliche Welt, die nichts unternimmt, oder diese ganze Rhetorik über Israel, das sich selber verteidigen müsse.

Es geht also nicht darum, wie gross die Proteste sind. Alle sind erzürnt über das, was sich gegenwärtig abspielt.

swissinfo: In welchem Ton wird in den arabischen Medien über die israelischen Luftangriffe berichtet?

K.W.: Natürlich geht es viel mehr um den arabischen Standpunkt. Es wird auch mehr über die Proteste berichtet, die in der arabischen Welt riesig sind.

Es gibt eine Menge von Filmmmaterial aus Gaza, das zerstörte Gebäude sowie tote und verwundete Menschen zeigt. Wir in Europa sehen nie so viele entsetzliche Bilder wie am arabischen Fernsehen, aber dies ist leider Teil der Geschichte.

swissinfo: Bezieht sich die Wut der Araber nur auf Israel, oder richtet sie sich auch gegen die Hamas?

K.W.: Ich habe niemanden gehört, der seinem Zorn über die Hamas zum Ausdruck brachte. Die Wut konzentriert sich ausschliesslich auf Israel und gegen den Westen. Die Hamas geniesst in der Bevölkerung grossen Rückhalt, nicht aber in den Regierungen.

Die Regierungen von Ägypten und Syrien versuchen, die Hamas nicht zu mächtig werden zu lassen.

Es besteht auch eine grosse Wut gegenüber den Ägyptern, weil sie ihre Grenze zu Gaza nicht richtig geöffnet haben. Nur einige Verletzte und Lastwagen mit Hilfsgütern wurden durchgelassen.

Ägypten wird als Marionette der USA angesehen, als Land, das sich dem amerikanischen Druck beugt. So wurde in Jemen das ägyptische Konsulat gestürmt.

swissinfo: Kurz vor der israelischen Offensive verbrachten Sie eine Woche in Gaza. Wie war die Stimmung?

K.W.: Als erstes konnte ich die absolute Kontrolle des Gazastreifens durch die Hamas feststellen. Es ist eine völlige Illusion von Israel zu glauben, es könne die Hamas ausmerzen.

Die Hamas regiert den Gazastreifen mit eiserner Faust. Sie machte klipp und klar, dass jeder, der sich der Hamas widersetzt, bestraft wird. So gehen die Hilfsgüter, welche die Hamas bekommt, an ihre Anhänger.

Ich konnte in der Bevölkerung auch eine enorme Angst spüren. Im Allgemeinen ist die Unterstützung für die Hamas noch immer gross, sicher auch, weil es im Gazastreifen keine Alternative zu ihr gibt.

swissinfo: Wie stehen die Aussichten auf eine Waffenruhe der Hamas, möglicherweise unter Vermittlung Ägyptens?

K.W.: Die Ägypter hatten bereits den letzten Waffenstillstand ausgehandelt und eine Fortsetzung dieser Waffenruhe geplant, was jedoch nicht eintraf. Nun müssen sie wieder bei Null beginnen – mit neuen Verhandlungen.

Es muss zu einer Waffenruhe kommen. Auch mit einer massiven Militär-Invasion kann Israel die Raketenangriffe nicht stoppen. Die Raketen sind zu klein, sie können nicht alle getroffen und eliminiert werden.

Die Hamas ihrerseits hat das Gefühl, der sechs-monatige Waffenstillstand habe ihr nichts gebracht. Die Grenzen blieben geschlossen und die humanitäre Hilfe ging zurück, anstatt zuzunehmen.

Die Hamas wird einem neuen Waffenstillstand erst zustimmen, wenn sie im Gegenzug etwas dafür erhält, zum Beispiel eine Vereinbarung über die Wiedereröffnung der Grenze, zumindest in Rafah, damit sich die Leute wieder bewegen und Güter eingeführt werden können.

(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)

In Israel leben 7,1 Millionen Menschen.

1,6 Millionen sind Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft.

Israel ist gut 20’000 Quadratkilometer gross, also etwa halb so gross wie die Schweiz.

Juni 1967: Israel nimmt den bislang von Ägypten kontrollierten Gazastreifen ein. Heute leben rund 1,5 Millionen Menschen im Gazastreifen. Die Vereinten Nationen
bezeichnen mehr als eine Million von ihnen als Flüchtlinge und deren Nachkommen.

Dezember 1987: Zusammenstösse im Flüchtlingslager Dschebalija lösen einen palästinensischen Aufstand aus, der bis 1993 andauert. Mehr als 2000 Palästinenser und 192 Israelis kommen ums Leben. Zu Beginn des Aufstands wird die Hamas gegründet.

September 2005: Israel zieht seine Truppen ab und auch 8500 jüdische Siedler müssen den Gazastreifen verlassen. Israel behält jedoch die Kontrolle über den Luftraum, die Küstengewässer und die Grenzübergänge.

Juni 2007: Die Hamas übernimmt gewaltsam von der Fatah die Kontrolle über den Gazastreifen.

Juni 2008: Israel und die Hamas vereinbaren eine Waffenruhe. Danach sollen die Raketenangriffe auf Südisrael eingestellt werden, während Israel seine Offensiven gegen die Hamas und ihre Führungsmitglieder stoppt.

November 2008: Nach einem israelischen Eindringen in den Gazastreifen feuern die Palästinenser wieder Raketen auf Israel ab.

19. Dezember 2008: Die Hamas erklärt die Waffenruhe offiziell für beendet.

27. Dezember 2008: Israel startet eine Luftoffensive und tötet am ersten Tag mehr als 200 Palästinenser.

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