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Den Gründen für die Wohnungsnot auf der Spur

Bitte hinten anstehen! Grosse Nachfrage - kaum mehr leere Wohnungen (Bild April 2001). Keystone

In der Schweiz herrscht Wohnungsnot. Trotz historischem Tiefststand der Hypothekarzinsen und unsicherer Finanzmärkte.

Die Komplexität des Immobilien-Sektors und langwierige Bewilligungs-Verfahren werden von den Investoren als Gründe angeführt, wieso nicht mehr Wohnungen gebaut werden.

In der Schweiz ist die Wohnungssuche, je nach Region, oft ein richtiger Leidensweg. Es sei denn, man verfügt über gute Beziehungen oder genügend Geld für Wohneigentum.

Denn der Leerwohnungsbestand ist landesweit unter 1% gesunken, wie das Bundesamt für Statistik (BFS) Ende September mitteilte. Insgesamt wurden am 1. Juni 2003, dem Stichtag, zwischen Genfer- und Bodensee nur 31’300 leere Wohnungen gezählt. Das sind 4400 weniger als im Vorjahr. Eine Wohnung gilt als leer, wenn der alte Mieter ausgezogen und noch kein Neuer gefunden ist.

Wirtschafts-Standorte besonders gefragt

Ganz genau waren es nur 0,91% der Wohnungen, die in der Schweiz leer standen, gegenüber 1,04% vor Jahresfrist. Am akutesten ist der Notstand im Kanton Genf, wo der Leerwohnungs-Bestand nur 0,17% beträgt. Es folgen die Kantone Zug mit 0,30% und Zürich mit 0,35%.

Die besten Aussichten auf eine freie Wohnung haben die Mieter in den Kantonen Glarus, Appenzell-Ausserrhoden und Thurgau, wo der Bestand bei je über 2% liegt.

Vor allem Zentren betroffen

Besonders kritisch ist die Situation in den grösseren Städten. Dies, weil das Wohnen in den Zentren wieder attraktiver geworden ist. Auch führt die berufliche Mobilität zu vermehrten Umzügen von der Peripherie in die Städte.

Diese Tendenzen führen dazu, dass beispielsweise in der City von Zürich Ende Juni gerade noch 81 Wohnungen leer standen. Die ungenutzten Büroflächen dagegen stiegen dort im letzten Jahr um das Dreifache an.

Das führte Stadtpräsident Elmar Ledergerber zum öffentlichen Eingeständnis: “Die Wohnungsnot ist gewaltig, der Druck auf dem Wohnungsmarkt ernorm.” Vor allem Neuzuzüger könnten, wenn überhaupt, in Zürich nur mit grösster Mühe eine ständige Bleibe finden.

Immerhin wurden an der Limmat in den letzten 5 Jahren fast 5000 neue Wohnungen gebaut, und bis 2010 sollen rund 33’000 weitere dazu kommen.

Kaum Industrie-Areale in Bern

Das sind Zahlen, von denen beispielsweise der Stadtberner Baudirektor Alexander Tschäppät nur träumen kann. In der gleichen Zeitspanne waren an der Aare lediglich 600 neue Wohnungen entstanden.

Der Sozialdemokrat hat vor allem gegen zwei Faktoren zu kämpfen. Einerseits rufen grössere Bauvorhaben in der Bundesstadt bei Parteien, Verbänden und Anwohnern traditionell starke Opposition hervor. Andererseits verfügt Bern im Gegensatz zu Zürich kaum über grössere Industriebrachen, die sich für grössere Bauprojekte anbieten.

Neben den oben erwähnten Städten können aber auch Zentren wie Lausanne, St. Gallen und Aarau die Nachfrage nach Wohnungen nicht decken.

Baugrund ist nicht zu knapp

Was sind die Ursachen für diese Wohnungsnot in der Schweiz? Fehlt es wegen des knappen Bodens und der Bevölkerungsdichte an Platz, um neue Wohnungen zu bauen?

“Überhaupt nicht!”, sagt der Sekretär der Westschweizer Union suisse des professionnels de l’immobilier (USPI), Christophe Reymond. “Es ist die Bautätigkeit, die stagniert.”

Reymond glaubt, dass es in der Schweiz noch genügend Bauland hat. Diese Meinung teilt BFS-Sprecher Ernst Hauri, der noch ein weiteres Argument anführt.

“Dass die Anzahl Neubauten nach wie vor tief ist, kommt vor allem daher, dass die Investoren noch immer von der Immobilienkrise Mitte der 90er Jahre verunsichert sind. So zögern sie, sich wieder auf den Markt vorzuwagen.”

Eigentlich ideale Bedingungen

Paradoxerweise sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen momentan ausserordentlich günstig für den Immobiliensektor. Die Hypothekarzinse sind auf einem historischen Tiefststand und die Preise im Bausektor sind unter Druck. Aber offenbar reicht das nicht aus.

Der Immobilienmarkt erzeuge “langfristig stabile und sichere Einkommen”, erklärt Luc Recordon, Ex-Präsident der Waadtländer Sektion des Schweizerischen Mieterverbands (Asloca). Aber auch das ändere nichts an der Situation, trotz der wechselnden Entwicklung der Finanzmärkte in den letzten drei Jahren.

Je nach Blickwinkel unterscheiden sich die Begründungen also. Die USPI findet, dass die Einschränkungen bei der Immobilienverwaltung stärker ins Gewicht fallen als die Marktbedingungen.

Mieterrecht oder lockendes Geld?

Christophe Reymond sieht ein ganzes Bündel von Kriterien, die er alle ungefähr gleich stark gewichtet. “Die Anpassung des Mietrechts, die Gesetzgebung im Immobilienbereich ganz allgemein, die Komplexität der Baugesetzgebung und der Immobilienverwaltung tragen zur gegenwärtigen Krise bei.”

Dies wird von Luc Recordon kategorisch bestritten. “Damit streut man den Leuten Sand in die Augen, um Druck auf das Mietrecht zu machen. Ich glaube vielmehr, dass die Investoren noch nicht auf die an der Börse erzielten Renditen verzichten wollen und deshalb ihre Investitionsstrategie nicht rechtzeitig angepasst haben.”

Der Schweizerische Pensionskassenverband (ASIP), in dem alle Pensionskassen des Landes zusammengeschlossen sind, hat noch eine andere Erklärung. Nicht der Wille zum Investieren fehle, führt Jean Pfitzmann aus.

“Die Anzahl Objekte auf dem Markt entsprechen nicht der Nachfrage”, erklärt der ASIP-Vizepräsident. Natürlich suchten die meisten Pensionskassen die gleiche Art von Objekten, vor allem Mietshäuser im mittleren Preissegment und in städtischen Zentren.

Lange Fristen!

Aber noch mehr als das Mietrecht kritisiert Pfitzmann die Baugesetze. “Seit drei Jahren warten wir auf die Baubewilligung für ein Projekt in Zürich. Solche Fristen halten die Kassen davon ab, Projekte einzuleiten, für die keine Baubewilligung besteht”, so Pfitzmann.

Angesichts der Renditen in diesem Sektor wird sich die Situation wieder normalisieren. Aber das braucht seine Zeit. “Ein Haus baut man nicht von heute auf morgen”, hält Reymond fest.

Nur wenn die Rahmenbedingungen verbessert werden, kann es vorwärts gehen. Die Berufsleute fordern Reformen, denn angesichts der jüngsten Hochrechnungen dürfte die Bevölkerung noch stark zunehmen.

Allein im Kanton Waadt rechnet man in den nächsten 15 Jahren mit 100’000 zusätzlichen Einwohnerinnen und Einwohnern. Die Behörden sind vorgewarnt.

swissinfo, Jean-Didier Revoin
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger

In der Schweiz standen am 1. Juni 2003 nur 0,91% aller Wohnungen leer.

Zwischen Juni 2002 und Juni 2003 hat der Leerwohnungsbestand um 4400, das sind 12%, auf 31’300 abgenommen.

In Neubauten hat der Leerwohnungsbestand um 4% abgenommen.

Dagegen hat die Anzahl leerer Einfamilienhäuser um 2% zugenommen.

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