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Der Burka-Entscheid oder die Kunst der Unterscheidung

Katja Gentinetta

Die Politikphilosophin Katja Gentinetta gehörte zu den Befürworterinnen des Burka-Verbots in der Schweiz. Sie sagt, das knappe Ja an der Urne zeige, dass Feminismus und Liberalismus gerade noch gesichert seien.

Es ist ein denkwürdiger Tag: 8. März, Tag der Frau und der Tag nach dem Ja zum Verhüllungsverbot in der Schweiz. Das knappe Ergebnis macht deutlich: Frauen- und Freiheitsrechte sind in der Schweiz weniger gesichert als man es sich als liberale Feministin wünsche würde. Ein Nein hätte bedeutet, es dem Familienoberhaupt zu überlassen, über die Sichtbarkeit und den Bewegungsradius seiner Frau und Töchter zu bestimmen; und es hätte den Liberalismus als Konzept missverstanden, das alles erlaubt, sogar freiheitseinschränkende Regeln und Regime.

Die Debatte im Vorfeld hat überdeutlich gemacht, wie wenig die Grundwerte Freiheit, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung überhaupt noch verstanden werden. Ihr Kern liegt nämlich darin, dass sie Unterscheidungen verlangen – und Unterscheidungen treffen: zwischen frei und unfrei, zwischen selbst- und fremdbestimmt, zwischen gleich- und ungleichberechtigt. Genau diese Unterscheidungen wurden von den Gegnern der Initiative nicht nur vernachlässigt und unterschlagen, sondern als lächerlich und falsch hingestellt.

Den Grund für diese Verirrung ist in einem sehr weit, ja zu weit fortgeschrittenen theoretischen Diskurs und, daraus abgeleitet, in einem überzogenen und letztlich gefährlichen Relativismus zu orten. Gefährlich deshalb, weil er am Ende auch gegen Radikalisierungen kein Argument mehr hat.

Falsch verstandener Liberalismus und Feminismus

Die Argumente gegen das Verhüllungsverbot waren beispielhaft dafür, wie Werte, die ins Extreme gezogen werden, sich selbst pervertieren. Das Kernanliegen des Feminismus ist es, die Unterordnung der Frauen aufzuheben und damit den Frauen jene Freiheit und Selbstbestimmung zu geben, die den Männern bereits zusteht. Der Feminismus verschrieb sich damit von Beginn an – und verschreibt sich immer noch – dem Kampf gegen die Diskriminierung, verstanden als willkürliche oder unbegründete Zu- oder eben Aberkennung von Vorteilen und Positionen qua Geschlecht.

Der Feminismus ist auch ein Kind des Liberalismus, für den die Freiheit das höchste Gut ist. Der Liberalismus weiss jedoch sehr genau, wie fragil die Freiheit ist und dass sie deshalb geschützt werden muss. In einem demokratischen Rechtsstaat obliegt es der Verfassung und dem Gesetz, das Individuum vor Übergriffen zu schützen – Übergriffen durch andere Individuen, durch Gruppen oder auch durch den Staat. Freiheit bedarf der Sicherheit, dass diese Freiheit auch gelebt werden kann. Der Liberalismus meint deshalb gerade nicht, dass alles erlaubt ist.

Muslime und Islamisten sind nicht dasselbe

Zwei wesentliche Unterscheidungen hat uns diese Initiative abverlangt: Erstens, dass Muslime und Islamisten nicht dasselbe sind. Das Verhüllungsverbot ist gerade kein Angriff auf Muslime, sondern auf den politischen Islam, den Islamismus, den Salafismus, den IS. Es ist somit ein Ausdruck des Entscheids, dass diese Spielarten eines religiösen Fundamentalismus in einer liberalen, säkularen Gesellschaft keinen Platz haben. Wer diese Unterscheidung trifft, ist gerade kein “Rassist”, da sich Rassismus nur gegen angeborene, nicht aber gewählte und wieder ablegbare Überzeugungen richten kann.

Und er ist auch nicht “islamophob” – ein Begriff, den sich der Westen auf naive Weise von den Islamisten hat anheften lassen. Denn es geht gerade nicht darum, eine Religion zu diskreditieren, sondern deren extreme Auslegung, in deren Namen Terrorakte verübt und das religiöse Gesetz über die liberale Verfassung gestellt wird.

Zur Erinnerung: Dass zahlreiche Islamisten die Sharia über die Verfassung stellen, ist kein Geheimnis. Bereits 2013 zeigte eine vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) in sechs europäischen Ländern durchgeführte StudieExterner Link, dass rund die Hälfte der in Europa lebenden Muslime findet, dass es nur eine gültige Auslegung des Koran gebe und religiöse Gesetze wichtiger seien als weltliche. Damit einher geht etwa die Überzeugung, dass eine Muslimin nicht ohne die Zustimmung ihres männlichen Vormundes heiraten dürfe; Polygamie erlaubt sei, Homosexualität hingegen illegal sein sollte; und dass, wer sich vom Islam abwende, die Todesstrafe verdiene. All diese wohldokumentierten Tatsachen wurden im Abstimmungskampf weitgehend unterschlagen.

Frei heisst nicht beliebig

Von den Gegnern wurde versucht, die Debatte ins Lächerliche zu ziehen und in eine Abstimmung über ein “Stück Stoff” oder ein “Kleiderverbot” zu lenken. Damit wurde auch die zweite wichtige Unterscheidung ignoriert: jene zwischen Freiheit und Beliebigkeit.

Von Freiheit und einer freien Entscheidung kann erst gesprochen werden, wenn Menschen zu gleichberechtigter Diskussion fähig sind. Die vielzitierte Freiwilligkeit ist bei den Frauen, die in den oben dargestellten Verhältnissen leben, gerade nicht gegeben – und angesichts jener Frauen, die unter Todesmut vor diesen Regimen zu uns geflohen sind, ein Hohn. Dass es Konvertitinnen sind, die sich freiwillig diesem Regime unterordnen, ist ebenfalls kein Argument; denn, so hat es Rebecca Schönenbach in ihrem Artikel “Burka oder Perlenkette”Externer Link auf den Punkt gebracht: Frauen können die Burka freiwillig anziehen – aber nicht freiwillig wieder ablegen, ohne um ihr Leben zu fürchten.

Der Entscheid für das Verbot ist somit aus feministischer Sicht ein klares Bekenntnis zu den Rechten für alle in diesem Land lebenden Frauen – unabhängig von ihrer Herkunft, Religion und ihren Familienverhältnissen.

Der Absender ist nicht das Argument

Bleibt die Frage nach dem Absender der Initiative. Das Egerkinger Komitee ist bisher nicht mit seinem leidenschaftlichen Kampf für Frauenrechte aufgefallen. Trotzdem muss einer liberalen Feministin der Triumph der Initianten lieber sein als die Genugtuung der Islamisten im Falle einer Ablehnung. Geradezu unheimlich wäre der Gedanke, unser Land würde von diesen als “Freiraum” für ihren Extremismus gesehen.

Und nicht zuletzt hätten wir hier in der Schweiz dem gerechtfertigten Zynismus, der uns künftig entgegengeschlagen wäre, wenn wir unter dem Titel der Gleichberechtigung für gleiche Löhne, Kinderkrippen oder Individualbesteuerung kämpfen, nichts mehr entgegenzusetzen gehabt.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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