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Die Schweizer Wirtschaft sprengt die Grenzen

Von Basel aus verschifft: Ein Beispiel für die grenzüberschreitende Wirtschaft. Keystone

17 von 26 Schweizer Kantonen grenzen ans Ausland. Die grenznahen Gebiete in Deutschland, Frankreich und Italien ziehen Investitionen an. Dorthin wird viel mehr exportiert als in die USA.

Wenn man die Grenzgänger, die in der Schweiz arbeiten, und ihre Familen dazuzählt, hätte die Schweiz 9,5 Millionen Einwohner, sagt Remigio Ratti, Tessiner Wirtschaftsprofessor und alt Nationalrat.

Anders gesagt: Die Grenze täuscht. In Wahrheit greift die Wirtschaft der kleinen Eidgenossenschaft weit in die angrenzenden Gebiete in Deutschland, Italien und Frankreich hinein, jedoch in unterschiedlichem Ausmass.

Im Norden und im Osten der Schweiz liegen Baden-Würtemberg und Bayern, zwei wirtschaftliche Schwergewichte. Sie sind Hochburgen der Automobilproduktion für grosse Märkte, sie sind Wirtschaftsmotoren für Deutschland und sie bilden einen einzigen Wirtschaftsraum zusammen mit der Schweiz, vor allem mit der Deutschweiz.

“Mit europäischen Massstäben gemessen bilden die zwei Nachbarn ein einziges Netz, eine wirtschaftlich sehr starke Region, wo die Grenze fast verschwindet”, erklärt Daniel Heuer, Verantwortlicher der Handelskammer Deutschland-Schweiz.

Diese Verflechtung entstand aus der Konkurrenz und aus der Gegensätzlichkeit. Bei austauschbaren Gütern oder Dienstleistungen sind sie Rivalen: Schreiner oder Gärtner haben Mühe, ins Nachbarland einzudringen. Im Gegensatz dazu haben die zwei Regionen sich ergänzende Industrien, beispielsweise in den Bereichen der Mikrotechnik und der Mikroelektronik.

Von den geschätzten zweitausend schweizerischen Firmen, die Niederlassungen in Deutschland haben, sind mehr als die Hälfte in Baden-Würtemberg und Bayern zu finden: Novartis, Swiss Re, Von Roll und viele andere. Die Behörden der betroffenen Bundesländer beziffern die direkten schweizerischen Investitionen auf mehr als 15 Millarden Franken.

Eine andere Zahl: Die Schweiz exportiert gleichviel nach Baden-Würtemberg und Bayern wie in die USA, nämlich Güter für rund 20 Milliarden Franken. Es handelt sich um Zuliefer-Produkte für KMUs, für die Autoindustrie, für Maschinen, für die Chemie- und Pharmaindustrie, für medizinische Technologie, für Computerfirmen und Software.

Gleich viel wie Indien

Im Westen grenzt die Schweiz an die französische Région Rhône-Alpes an. Sie verkauft ihr ungefähr gleich viel wie sie nach Indien liefert. Die Exporte bewegen sich in der Grössenordnung von 2,3 Millarden Franken pro Jahr. Es sind vor allem Kunsstoffe, mechanische Ausrüstung, Elektronik und Elektrizität, Produkte aus Metall, die exportiert werden. Die Eidgenossenschaft ist gleichzeitigt der siebstärkste Kunde und der siebtstärkste Verkäufer in der Region Rhône-Alpes.

Auch hier haben die Schweizer Unternehmen ihr Territorium bis jenseits der Grenze ausgesteckt. Vierhundert Unternehmen seien in der französischen Region ansässig. Offiziell jedoch zählt man sechzig Firmen, die mehr als fünfzig Angestellte haben, sagt der Generalkonsul der Schweiz in Lyon, Michel Failletaz. Migros grenzt hier an ABB, an Staubli (Textilmaschinen) oder an Roche.

“Man kann nicht vom gleichen Netz sprechen, das beide Seiten der Region verbindet”, präzisiert allerdings Failletaz. “Das Prinzip der zwei Orte steht auf dem Papier, aber es kommt nicht vorwärts.” Dieses Prinzip bedeutet, dass ein Unternehmen einen Sitz in einem Land hat und eine Niederlassung im anderen. Welcher Teil des Gewinns wo versteuert wird, ist genau geregelt.

Frankreich möchte nicht unbedingt, dass französische Unternehmen in der Schweiz ansässig sind, wenn ein grosser Teil der Arbeitnehmer aus Frankreich kommt, wie dies im Grenzgebiet um Genf der Fall ist.

Es sind fast 52’000 französische Grenzgänger, die in der Region Genf arbeiten und fast 25’000 Schweizer, die sich in Frankreich niedergelassen haben und in der Schweiz arbeiten.

Ein Trumpf zum Ausspielen

“Die grenznahen Regionen sind sich bewusst, dass sie in Zukunft noch mehr austauschen werden”, sagt Tony Moré, Spezialist beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). “Es ist im Interesse dieser Regionen, Richtung Zusammenarbeit zu gehen, um mehr von der Dynamik der Schweiz zu profitieren und hochwertige Aktivitäten anzuziehen. Sie haben einen Trumpf zum Ausspielen.”

Doch die Schweiz gewinnt auch etwas. Mit diesen Regionen, die auch die stärksten Auslandschweizer Gemeinschaften in Frankreich, Deutschland und Italien beherbergen, kann die Schweiz einfacher Kontakte knüpfen.

In jeder dieser grenzüberschreitenden Wirtschaftsregionen gibt es zwischenstaatliche regionale Instanzen, um die Beziehung der zwei Gebiete zu organisieren und die Dynamk zu steuern. Im Süden, zwischen dem Tessin und der Lombardei, ist dies allerdings am wenigsten ersichtlich.

Südlich der Alpen überqueren ungefähr 50’000 Personen jeden Tag die Grenze, um in der Schweiz zu arbeiten. 68% der schweizerischen Importe aus Italien kommen aus der Lombardei (6,3 Milliarden Franken).

Es ist eine Region, der die Schweiz für 5,2 Milliarden Franken pharmazeutische Produkte, Uhren. Maschinen, Produkte aus Metall und Ernährungsprodukute verkauft. Ohne, dass die Finanzdienstleistungen eingerechnet wären.

Verschiedene Meinungen

Wie andere grenzüberschreitende Wirtschaftsräume nehmen das Tessin und die Lombardei an dem europäischen Programm Interreg teil. Dieses Programm soll die Zusammenarbeit zwischen den Regionen fördern, es geht um Infrakstrukturvorhaben oder Kooperationen.

Auf der lokalen Ebene hat die Arbeitsgemeinschaft Regio Insubrica 1995 ihre Arbeit aufgenommen. Nach der Einschätzung des Schweizer Botschafters in Italien gibt es keine Barrieren mehr, die Grenze ist heute eine Linie, die die beiden Regionen verbindet. Dies wird vom Wirtschaftspezialisten Remigio Ratti in Frage gestellt:

“Die Lombardei ist eine Region mit 10 Millionen Einwohnern, davon 6 Millionen nördlich von Mailand. Man muss sich diese Zahlen unablässig vor Augen halten, um zu begreifen, dass die Zukunft des Tessins nur als schweizerisches Territorium des grossen Metropolitanraumes Mailand denkbar ist. Aber in den Köpfen der Leute, im Tessin wie auch in Como oder Varese, hat die Grenze nach wie vor eine trennende Funktion.” Mit allen Identitätsschwierigkeiten, die das mit sich bringe.

“Wenn das Tessin die Herausforderung der Grenze nicht meistern kann, und ohne Unterstützung der Eidgenossenschaft, verurteilt sich der Kanton zur Ausgrenzung”, meint Remigio Ratti. Im Moment jedenfalls müsste eine wirtschaftlich grenzübergreifende Vernetzung des Südens der Schweiz erst geschaffen werden.

Der frühere Nationalrat in Bern bestätigt das, was Seco-Chef Jean-Daniel Gerber kürzlich gesagt hat: Süddeutschland, das Département Rhône-Alpes und die Lombardei seien für die Schweizer Wirtschaft wichtiger als China, die USA oder Indien. Sie sind die nächsten Nachbarn.

Aber Remigio Ratti kritisiert dennoch: “Diese Regionen werden wichtiger für uns, und ich finde es skandalös, dass die Eidgenossenschaft und das Parlament so wenig Geld für die Interreg- Projekte gesprochen hat. Die letzten Interreg-Projekte wurden zu 90% von der Europäischen Union und den Nachbarstaaten finanziert. Wir Schweizer sind nicht mal in der Lage, zehn Prozent beizusteuern.”

Pierre-François Besson, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Eveline Kobler)

Zahlen: Die Schweiz hat ungefähr 300’000 Firmen, von denen 12% im Export tätig sind. 5% erzielen mehr als einen Drittel ihres Umsatzes mit Exportgeschäften

Sektoren: Die grundsätzlichen Exportbranchen sind die Chemie-, die Maschinenindustrie, die Uhrenfabrikation und die Herstellung von Präzisionsinstrumenten, die Metallindustrie, Produkte aus der Landwirtschaft, Produkte zur Energieerzeugung und Fahrzeuge

Investitionen: Die Schweiz ist der sechstgrösste Investor im Ausland, hinter Frankreich und Deutschland, aber vor Italien und Japan.

Angestellte: Die schweizerischen Unternehmen beschäftigen zwei Millionen Mitarbeitende im Ausland.

Die wichtigsten Exportländer für die Schweiz sind (Reihenfolge absteigend):

Deutschland
USA
Italien
Frankreich
Grossbritannien
Japan
Spanien
Österreich
China
Niederlande

Interreg ist eines der zentralen Instrumente in der europäischen Kohäsionspolitik bzw. Regionalpolitik, mit der die Entwicklungsdifferenzen zwischen den europäischen Regionen gemindert und der ökonomische Zusammenhalt gestärkt werden soll.

Zwischen 2007 und 2013 investiert die EU mehr als 8,5 Milliarden Euro für die grenzübergreifende Zusammenarbeit in ganz Europa. Finanziert wird Interreg durch den Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE). Das Förderprogramm ist mittlerweile in drei Teile gegliedert:

Interreg A: Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Förderfähig sind Regionen, die an Landes- und Seegrenzen liegen.

Interreg B: Förderung der transnationalen Zusammenarbeit. Förderfähig sind alle europäischen Regionen. Es existieren 13 geografisch zusammenhängende Programmräume.

Interreg C: Förderung von interregionaler Zusammenarbeit, Kooperationsnetzen und Erfahrungsaustausch. Das gesamte Gebiet der EU ist förderfähig.

2007 startete die vierte Interreg-Förderperiode. Bis zum Jahr 2013 können zahlreiche Projekte im Rahmen von Interreg IV initiiert werden.

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