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Die Schweizerfahne des Portugiesen Francisco

Francisco und Yvonne vor der Bar in ihrem Bistro Bellini. swissinfo.ch

Köbi Kuhns Fussball-Elf stösst bei der portugiesischen Bevölkerung auf wenig Beachtung. Interessiert sind allenfalls Portugiesen, die früher einmal als Gastarbeiter in der Schweiz gelebt haben.

Auf dem Fernsehbildschirm haben die Fussballer jedoch keine Chance gegen die blonde Michelle Hunziker.

Mit ihrer Karriere in Deutschland und Italien ist die als Mannequin und Präsentatorin arbeitende Michelle Hunziker eigentlich nicht der Prototyp einer Durchschnitts-Schweizerin.

Trotzdem ist die Ex-Frau des italienischen Sängers Eros Ramazotti in Portugal die bekannteste Schweizerin. Ihre Werbung für eine Bonbon-Marke wird allabendlich zur “Prime time” auf den nationalen Fernsehketten ausgestrahlt.

Was sind da im Vergleich die Spiele, welche die Schweizer Elf in diesem zwölften Europameister-Turnier bestreitet? Wahrscheinlich wenig. Und die Schweiz riskiert, noch für lange Zeit für viele Portugiesen ein nebulöses Gebilde zu bleiben.

So auch für die junge Fahnenverkäuferin, die in unmittelbarer Nähe des Stadions von Coimbra Fahnen verkauft. Sie zieht eine englische Fahne hervor, obwohl eine “bandera suiça” verlangt wurde.

Schweizer Fans starten niemals in ein Reiseabenteuer, ohne Tickets, Stadionkarten und alle nötigen Utensilien bereits von zu Hause mitbringen.

Völlig unnötig deshalb zu versuchen, ihnen ihre eigene Fahne verkaufen zu wollen oder sie mit den 30’000 Engländern zu vergleichen, die in Portugal gelandet sind, ohne sicher zu sein, ob sie die Leistungen von Beckham und seiner Mannschaft überhaupt direkt mitverfolgen können.

Bellini aus Rio Major

In Rio Maior hat Francisco einige Zeit gebraucht, um seine Schweizer Fahne zu finden. Er braucht sie, um den grossen Bildschirm zu schmücken, an dem seine Gäste die Eurospiele verfolgen können. Schliesslich konnte er doch noch eine auftreiben – keine viereckige zwar, aber wenn kümmert das hier schon.

Der Eigentümer des Bistro-Bellini, Francisco, ist Portugiese, aber er kann sich perfekt in “Schyzerdüütsch” ausdrücken.

Francisco hat siebzehn Jahre seines Lebens in der Schweiz verbracht und ist erst seit kurzem in seine Heimat zurückgekehrt. “Es war wegen der Kinder”, erklärt er. “Eines ist neun Jahre alt, und wir konnten nicht länger mit dem Wechsel in ein völlig anderes Schulsystem zuwarten.”

Francisco und seine irische Frau Yvonne – er hat sie in der Schweiz kennen gelernt – haben in Rio Maior ein Haus gebaut. “Das hätten wir uns in der Schweiz nie leisten können”, sagen sie.

Ein Stück Schweiz im Herzen

Francisco taufte sein kleines, vor zwei Wochen eröffnetes Bistro Bellini, nach einem seiner früheren Arbeitgeber.

Mit 20 Jahren kam er in die Schweiz und begann seine Karriere “von der Pike auf” in einer Berner Herberge und war zuletzt Chef de Service im Schweizerhof in Luzern.

“Die Schweiz fehlt mir schrecklich”, bekennt er. “Auch wenn ich mich hier zu Hause fühle und alles gut läuft. Aber wenn ich an Luzern denke, so sauber und so ruhig, habe ich ein wenig Heimweh.”

Gekreuzte Schicksalswege

Einige Meter vom Bellini entfernt, in einem anderen Café, serviert ein hübsches Mädchen mit mandelförmigen blauen Augen draussen auf der Terrasse.

“Olena ist Ukrainerin”, erklärt ihr Patron. “Hier in Portugal ist es fast unmöglich geworden, einheimisches Servierpersonal zu finden. Die Leute hier denken, es sei eine niedere Arbeit.”

Am stärksten ist die Einwanderung von Menschen aus dem Osten. Die Ukrainer bilden sogar die grösste Ausländergruppe in Portugal. Gegen 120’000 von ihnen arbeiten im Gastgewerbe und im Bausektor.

Die Osteuropäer erledigen heute in Portugal also die selbe Arbeit, die viele Portugiesen früher akzeptiert haben, um in der Schweiz arbeiten zu können.

In Rio Maior, in nächster Nachbarschaft, sind Francisco und Olena ein Symbol für ihre beiden Länder, die sich derzeit rapid verändern. Ihre Schicksale haben sich gekreuzt und vereinen sich jetzt in einer gemeinsamen Geste: Einem durstigen, fussballverrückten Kunden ein kühles Bier zu servieren.

swissinfo, Mathias Froidevaux und Doris Lucini in Rio Maior
(Aus dem Französischen übersetzt von Etienne Strebel)

In Portugal leben 2700 Schweizerinnen und Schweizer (die Hälfte sind Doppelbürger).
Zum Vergleich: In Portugal leben über 120’000 Ukrainer.
In der Schweiz leben 162’000 Portugiesinnen und Portugiesen.

Rio Maior befindet sich 75 km nördlich von Lissabon und 240 km südlich von Porto.

21’000 Menschen leben in Rio Maior auf 270 km2.

Die Gemeinde ist, bezogen auf die Infrastruktur, ein “portugiesisches Magglingen”, mit einer Sportschule, einem grossen Sportcenter mit Hallen, Fussballfeldern, Schwimmbecken, Konferenzsälen und Hotelzimmern.

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