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Doppelte Pflicht – doppeltes Recht

Das Ehepaar Baumann, Gastschreiber der deutschsprachigen Redaktion. zvg

Die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer sind Glückspilze. Auch fern der ursprünglichen Heimat dürfen sie das Stimm- und Wahlrecht der Schweiz behalten.

Ein gutes Gefühl. Und die Doppelbürgerinnen können sogar in zwei Ländern wählen, in der alten und in der neuen Heimat – ein doppelt gutes Gefühl!

Schon am Tag unserer Auswanderung beschlossen wir, nach Ablauf der vorgeschriebenen Frist von fünf Jahren die französische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Wir haben seither das politische Geschehen hier aufmerksam verfolgt und oft mit den Nachbarn diskutiert. Über die europäische Verfassung, das Schleierverbot, die Jugendunruhen und seit einigen Monaten natürlich auch über die im nächsten Jahr anstehenden Präsidentschaftswahlen. Dass wir uns an diesen Wahlen selber werden beteiligen können, wagen wir allerdings noch kaum zu hoffen.

Besuch der Gendarmen

Im August haben wir unsere “Demande de Naturalisation” auf der Gemeinde abgegeben. Die Gemeindeschreiberin half mit beim Zusammenstellen, Kontrollieren und Kopieren der vielen Formulare und Dokumente. Die ins Französische übersetzten Geburtsscheine hatten wir vorher schon per Internet in der Schweiz bestellt. Eine fantastische Dienstleistung der Schweizer Behörden.

Im September erhielten wir unangemeldeten Besuch von zwei freundlichen Gendarmen, die sich diskret bei uns umschauten und noch einmal die gleichen Fragen stellten, die wir bereits ausführlich auf den eingereichten Formularen beantwortet hatten.

Im Oktober wurden wir zum Gespräch auf die Préfecture bestellt, wo wir zum dritten Mal die gleichen Fragen beantworteten: Was arbeiten Sie? Wovon leben Sie? Haben Sie Kinder? Wo leben diese? Weshalb wollen Sie Franzosen werden?

Dass wir uns für Politik interessieren und gerne bei Wahlen und Abstimmungen teilnehmen würden, schien die Beamtin sehr zu freuen. Sie bedauerte ehrlich, dass die Registrierungsfrist für die nächsten “Présidentiels” bereits im Dezember abläuft. Bis dahin werde unsere Einbürgerung wohl kaum über die Bühne sein, aber sie wolle ihr Möglichstes tun, damit unser Gesuch schnell nach Paris weitergeleitet werde. Unser Dossier trägt jetzt den Vermerk “urgent”.

Abstimmen in der Schweiz

Ob all unseren Bemühungen um das französische Wahlrecht vergessen wir selbstverständlich die Abstimmungen in der Schweiz nicht. 1992 hat die Mehrheit der Schweizer Stimmenden den Auslandschweizern grosszügig das Recht gewährt, ihre Stimmzettel auch aus dem Ausland einsenden zu dürfen.

Seither ist die fünfte Schweiz zu einem so wichtigen Faktor bei eidgenössischen Urnengängen geworden, dass bei den Abstimmungskampagnen auch um die Stimmen der Auslandschweizer geworben wird. Ihr Einfluss wächst, und damit auch ihre Verantwortung beim Mitgestalten einer offenen, modernen Schweiz.

Dafür sind sie prädestiniert als Weltbürger, die der engen Schweiz entflohen sind. Ihre Erfahrungen als Emigranten und Ausländer, als Fremde in einer neuen Wahlheimat, wo sie freundlich empfangen wurden, macht sie alle zu toleranten und hilfsbereiten Menschen. Hatten wir gedacht.

Wie masslos enttäuscht waren wir daher, als wir vor den letzten Abstimmungen vernehmen mussten, dass der Auslandschweizer-Rat an seinem Kongress die Ja-Parole zum verschärften Asyl- und Ausländerrecht beschlossen hatte.

Wir konnten nicht glauben, dass dieser Beschluss die Meinung der Auslandschweizer widerspiegelt. Und wir verstehen bis heute nicht, dass Auslandschweizerinnen mithalfen bei der Annahme eines Asylgesetzes, das unnötige und unverhältnismässige Härten gegen Fremde einführt und nicht mal den EU-Regeln entspricht.

Das Überschreiten von Grenzen führt offensichtlich nicht automatisch zu mehr Menschlichkeit. Ebenso wenig wie der Blick in die Geschichte.

Vergangenheitsbewältigung

1938 hat die Schweiz ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich und aus Österreich geschlossen. In den darauf folgenden Jahren wies die vom Krieg verschonte Schweiz auch die vor dem Abtransport in die Konzentrationslager flüchtenden Juden aus Frankreich zurück.

Trotz allen Diskussionen über den Bericht der Bergier-Kommission in den 90er Jahren ist dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte noch immer nicht so weit aufgearbeitet, dass es die aktuelle Flüchtlingspolitik in der Schweiz beeinflussen könnte.

Eine andere, aber nicht minder schmerzhafte Geschichte hat Bordeaux zu bewältigen. Kürzlich waren wir wieder mal drei Tage dort und bestaunten, was die “Bordelais” mit Hilfe einer radikalen Stadtplanung in den letzten Jahren realisiert haben: neue Tramlinien, Fussgängerzonen, Neugestaltung der Plätze und des Hafenareals. Hier ankerten früher die Handelsschiffe, die der Stadt wirtschaftliche Bedeutung brachten.

Und hier findet man seit diesem Frühling auch eine Bronzetafel, welche an die Opfer der Sklaverei erinnert. Über 150 Jahre nach dem die letzten Schiffe hier ausliefen, um Männer, Frauen und Kinder von der afrikanischen Küste zu verschleppen, hat die Stadt endlich ihr Schweigen gebrochen und bekennt heute, dass sie im 18. Jahrhundert ihren Reichtum nicht nur dem Handel mit Wein und Zucker verdankte, sondern auch dem Menschenhandel.

Jedes Land tut sich schwer damit, seine Geschichte aufzuarbeiten. Wir stecken jetzt mitten in der Geschichte von zwei Ländern, und wir wollen nicht mit dem moralisierenden Finger auf Frankreich oder auf die Schweiz zeigen. Aber kritisch hinterfragen dürfen wir sie schon, unsere Heimatländer.

Stephanie und Ruedi Baumann


Die Meinung des Autorenpaars muss nicht mit jener von swissinfo übereinstimmen.

Stephanie Baumann, Jahrgang 1951, war Berner Kantonsrätin und Nationalrätin für die Sozialdemokraten. Zudem amtete sie als Verwaltungsrats-Präsidentin des Berner Inselspitals.

Ruedi Baumann, Jahrgang 1947, ist gelernter Bauer und Agronom. Er war Gemeinderat, Kantonsrat, Nationalrat und Präsident der Grünen Partei Schweiz.

Stefanie und Ruedi Baumann haben zwei Söhne. Die Familie bewirtschaftete 28 Jahre lang einen Bauernbetrieb in Suberg, im Berner Seeland, bevor sie im Jahr 2003 nach Frankreich auswanderte.

Heute leben die Baumanns in der Gascogne, 100 km westlich von Toulouse, und sind als Biobauern auf ihrem eigenen Hof tätig.

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