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EU enttäuscht, denkt jedoch nicht an Gegenmassnahmen

"Es tönt etwas flapsig, aber wir würden in keinen Fall zwischen Schweizern aus verschiedenen Kantonen unterscheiden": Richard Jones. Keystone

Dass der Bundesrat die Personenfreizügigkeit mit der EU einschränken will, sei aus Sicht der EU und "mit Blick auf die wirtschaftliche Situation" in der Schweiz "nicht gerechtfertigt", sagt Richard Jones, der EU Botschafter in der Schweiz in einem Interview mit swissinfo.ch.

Ein Jahr vor Auslaufen der Ventilklausel sei es grundsätzlich “wenig sinnvoll, kurz vorher” die Immigrationsbremse einzuführen, sagt Jones zum Entscheid des Bundesrates, die Immigration aus allen EU-Ländern für ein Jahr zu begrenzen.

swissinfo.ch: Die Schweiz will den Zugang zu ihrem Arbeitsmarkt neu für alle EU-Länder kontingentieren. Wie reagieren Sie?

Richard Jones: Die EU bedauert diesen Entscheid. Aus unserer Sicht ist er mit Blick auf die wirtschaftliche Situation in der Schweiz nicht gerechtfertigt. Dazu kommt, dass in einem Jahr zwischen der Schweiz und der EU die Personenfreizügigkeit vollumfänglich gelten wird. Es ist aus unserer Sicht wenig sinnvoll, kurz vorher solche Massnahmen einzuführen.

Ausserdem haben wir Mühe mit wem Weg, den die Schweiz gewählt hat, indem sie die Ventilklausel zuerst für die EU8 und jetzt auch für die EU17 angerufen und damit zwei Gruppen von Mitgliedstaaten geschaffen hat. Diese Unterscheidung ist in den Verträgen nicht vorgesehen und verletzt eines der Schlüssel-Prinzipien der EU. Wir sind eine Einheit und wir unterscheiden nicht zwischen einzelnen Mitgliedstaaten.

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swissinfo.ch: Neu gilt die Ventilklausel aber für alle EU-Staaten, ausser Rumänien und Bulgarien – damit liegt keine Diskriminierung mehr vor.

R.J.: Das Problem wäre anders gelagert, wenn die Zahlen für alle 25 Länder zusammengezählt worden wären. Doch das hat die Schweizer Regierung nicht gemacht. Damit sind wir nicht einverstanden.

swissinfo.ch: Sie sagen, der Entscheid sei wirtschaftlich nicht gerechtfertigt. Man kann ihn aber auch als innenpolitisches Signal deuten. Können Sie nachvollziehen, dass die Regierung damit auch ein Zeichen gegen die Immigration setzt und jenem Teil der Bevölkerung entgegenkommt, der weniger Immigration möchte?

R.J.: Den politischen Diskurs zwischen der Schweizer Regierung und der Bevölkerung habe ich nicht zu kommentieren. Aber wir befinden uns im letzten Jahr einer Übergangsperiode. In einem Jahr läuft die Ventilklausel aus. So steht es in den Verträgen. Wir möchten nun lieber diese Phase vorbereiten.

swissinfo.ch: Ist es denkbar, dass die EU ähnliche Schritte gegenüber der Schweiz in Erwägung zöge, also eine Beschränkung der Anzahl Schweizer, die in der EU leben und arbeiten?

R.J.: Die Verträge sehen das nicht vor. Bedeutender ist jedoch, dass die Personenfreizügigkeit für die EU eine absolut zentrale Bedeutung hat. Die Tatsache, dass viele Schweizer in EU-Staaten leben und arbeiten ist für uns extrem positiv und trägt wesentlich zu unserem wirtschaftlichen Leben bei.

Auch für die Schweiz ist das positiv. Ich denke, es wäre sehr seltsam, wenn wir einen solchen Weg gehen und die Anzahl Schweizer reduzieren würden. Es tönt etwas flapsig, aber wir würden in keinem Fall zwischen Schweizern aus verschiedenen Kantonen unterscheiden.

swissinfo.ch: Wird der Entscheid der Schweiz die Diskussionen in andern Bereichen erschweren? Etwa beim Thema Bankgeheimnis?

R.J.: Die Institutionen beurteilen grundsätzlich jedes Dossier einzeln. Sie haben nicht den Hang, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Was wir nicht wissen, das ist, wie die einzelnen Mitgliedstaaten auf den Entscheid der Schweiz reagieren werden. Am Schluss muss jedes Abkommen von den Mitgliedern genehmigt werden. Hier ist das Fragezeichen zu suchen.

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swissinfo.ch: Ein Teil der Schweizer Bevölkerung steht der Immigration feindlich gegenüber. Wie würden sie diese Leute von deren Vorzügen überzeugen?

R.J.: Die Personenfreizügigkeit ist für die Schweiz ein unglaublicher Erfolg. Sie hat entschieden zum wirtschaftlichen Erfolg des Landes beigetragen und ich denke, sie ist einer der wichtigen Faktoren, die dazu beigetragen haben, dass die Schweiz trotz einem weltweit schwierigen Umfeld so gut dasteht. Dazu kommt, dass die Freizügigkeit viel zur persönlichen Freiheit von uns allen beiträgt.

Es gibt natürlich auch Schwierigkeiten, die Hand in Hand mit einer solch straken Wirtschaftsentwicklung entstehen: Hohe Wohnungskosten und Mieten, volle Schulen und so weiter. Ich denke, wir sollten diese Themen als eigenständige Phänomene betrachten und sie nicht mit der Personenfreizügigkeit vermischen. Gleichzeitig müssen wir den Nutzen, den die Freizügigkeit dem Land und der EU gebracht hat, im Auge behalten. Beide Seiten haben dadurch gewonnen.

swissinfo.ch: Dennoch haben viele Schweizer Angst vor jeder Annäherung an die EU. Können Sie diese Zurückhaltung verstehen?

R.J.: Wir wollen die Schweiz als das betrachten, was sie ist, und wir müssen verstehen, welche Debatten das Land führt und welche Sorgen die Schweizer haben. Ich denke, dass je mehr das Thema diskutiert wird und je mehr Mythen über die EU ausgeleuchtet werden, die Ängste abnehmen werden.

Ich habe beispielsweise das Gefühl, in der Schweiz sieht man die EU als Gebilde, das die Länder gleich machen will. Das ist jedoch definitiv nicht der Fall. Wir sind zwar 27 vereinte Mitgliedstaaten, aber jeder Staat ist unterschiedlich, genauso wie die Schweiz auch.

swissinfo.ch: Kürzlich haben Sie gesagt, die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU zu den institutionellen Fragen seien schwierig, aber es gehe vorwärts. Wie lange dauert es noch bis zu einer Lösung?

R.J.: Ich kann keine definitive Antwort geben. Was ich sagen kann ist, dass wir und auch die Schweizer Kollegen in den Sondierungsgesprächen sehr interessiert waren, sehr schnell zu arbeiten und dass die seit Beginn dieses Jahres erzielten Fortschritte enorm sind. Beide Seiten wollen den Schwung aufrecht erhalten.

swissinfo.ch: Sind sie optimistisch, dass es am Schluss zu einer guten Lösung kommt?

R.J.: Ich denke, es ist nichts vorbei, bevor es vorbei ist, aber ich bin optimistisch in Bezug auf die Fortschritte, aber auch mit Blick auf die Atmosphäre, in der die Gespräche stattfinden. Es ist ein schwieriges Thema; wenn es das nicht wäre, hätten wir nicht so viele Stunden dafür aufgebracht. Es gibt keine Garantien für eine Lösung, aber ich denke, die Richtung der Reise ist ermutigend.

Die Einführung von Kontingenten für Bürger der 17 “alten” EU-Staaten wird nur kleine Auswirkungen auf die Einwanderung in die Schweiz haben, da es schätzungsweise nur um 4000 bis 5000 Personen geht.
 
Die Klausel kann auf diese Staaten nur angewendet werden, wenn bis Ende Mai mehr als 56’268 B-Ausweise für einen Aufenthalt von fünf und mehr Jahren vergeben werden.
 
Aktuell fehlten noch gut 3300 B-Ausweise zur Erreichung dieser Obergrenze. Die Limite werde sicher erreicht, so Bundesrätin Simonetta Sommaruga am Mittwoch.
 
Mit der Klausel werden von Ende Juni 2013 bis Ende Mai 2014 noch 53’700 B-Bewilligungen erteilt.
 
Der Bundesrat hat auch die vor einem Jahr eingeführten Kontingente für Personen aus Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Slowakei, Slowenien und Tschechien verlängert. Aus diesen Ländern werden knapp 2200 Personen ein B-Permis erhalten.
 
Begrenzt werden für Menschen aus diesen Ländern neu auch die L-Permis für einen Aufenthalts bis zu einem Jahr. Dies wiel die meisten Einreisenden von einem B- auf ein L-Permis umgestiegen waren.
 
Die G-Permis für Grenzgänger sind von den Massnahmen nicht betroffen.

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