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Emotionaler Abschied

Für den Grossverteiler rentieren die Wagen nicht mehr - ursprünglich legten sie den Grundstein des Migros-Erfolges. Keystone Archive

Am Dienstag fuhren die bekannten Camions der Migros letztmals durch das Tessin. Damit bleiben landesweit nur noch zwei rollende Einkaufsläden im Einsatz - im Wallis.

“Dies ist ein sehr trauriger Tag, eine Epoche geht zu Ende.” Carla Lorenzetti aus Curio im Malcantone kann ihre Emotionen nicht verbergen. Letztmals tätigt die 68-jährige Rentnerin ihren Einkauf im Migroswagen, läuft durch den schmalen Gang zwischen den bereits halb leeren Regalen. Die Ware wird vom Chauffeur in die Taschen gepackt – das gehört zum Kundenservice.

Ende einer Tradition

Noch mehr als die Produkte wird ihr die Tradition fehlen. Der Einkauf am Migroswagen jeden Dienstagmorgen war ein Fixpunkt im Wochenablauf.

Hier traf man sich, hielt ein Schwätzchen und wartete sogar gerne, wenn der Wagen etwas Verspätung hatte. Curio hat zwar noch einen Dorfladen, aber da geht jeder zu einer anderen Zeit hin. Und teurer ist es auch.

Es waren vor allem Seniorinnen und junge Frauen mit Kindern, selten Männer, die zur Stammkundschaft der Migroswagen gehörten. In den abgelegenen kleinen Dörfern kennen sich alle untereinander, die meisten nennen sich mit dem Vornamen.

“Wir gehen nicht in die Bar wie die Männer, der Migroswagen war ein guter Treffpunkt”, sagt eine Witwe in Bedigliora. Jetzt fehle auch dies, nachdem schon die Post geschlossen und auf Hauslieferdienst umgestellt hat. Als sie Kind war, gab es noch drei Kneipen und drei Geschäfte im Dorf. Geblieben ist nur ein Restaurant.

Traurige Kassiererin…

Gar manche Träne läuft an diesem Tag Maria Decristophoris über die Wange. Die Kassiererin fährt seit 31 Jahren ihre Routen durch das Tessin – für die Kundinnen ist sie eine Freundin geworden.

“Ich habe diese Arbeit geliebt, wir sind wie eine grosse Familie”, sagt sie. Und dies trotz der langen Arbeitstage, manchmal von 7 Uhr morgens bis 20 Uhr abends.

Ihren Job verliert sie nicht, aber die neue Arbeit in der Migros-Filiale von Minusio mag sie noch nicht begeistern. “Ich gewinne auf der materiellen, aber nicht auf der menschlichen Ebene.”

…und Abschiedsküsschen des Chauffeurs

Chauffeur Giacomo Longo geht es ähnlich. Seit elf Jahren hat er die Migros-Gefährte durch die engen Tessiner Strässchen gekurvt. Jetzt küsst er zum Abschied alle Kundinnen auf die Wange. In jedem Ort wird ein Gruppenfoto vor dem Wagen geknipst.

Für Migros unrentabel

Was für die Kunden ein kleiner Teil ihres gesellschaftlichen Lebens war, ist für die Migros ein finanzieller Ballast geworden. In der deutschen Schweiz verkehren die Migroswagen schon nicht mehr. Im Tessin hat man kontinuierlich abgebaut.

Während 1983 noch zwölf Camions einen jährlichen Umsatz von 19,5 Mio. Franken einbrachten, kamen die übrig gebliebenen fünf Wagen zuletzt nur noch auf 7,1 Millionen Franken – ein klares Verlustgeschäft.

Rollende Wagen seit der Gründungszeit

So ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Ära der Migroswagen und damit eines Stücks Firmengeschichte definitiv zu Ende ist. Im Wallis verkehren jetzt die beiden letzten.

Dabei begründete Gottlieb Duttweiler sein Unternehmen 1925 mit rollenden Läden. Weil er damals ein Filialverbot hatte, brachte der Pionier Lebensmittel und Seifen auf rollenden Läden zu seinen Kundinnen.

Gerhard Lob, Tessin

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