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EU-Reformvertrag: Kein Einfluss auf die Schweiz

Der britische Premierminister Gordon Brown unterzeichnet den neuen Reformvertrag. Keystone

Am Donnerstag haben die Regierungschefs der EU-Staaten in Lissabon den Reformvertrag unterzeichnet, eine entschlackte Version der vor drei Jahren abgelehnten Verfassung der Europäischen Union.

Der Reformvertrag habe keinen Einfluss auf die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU, sagt der Politologe René Schwok im Gespräch mit swissinfo.

Der Reformvertrag der Europäischen Union (EU) wurde am Donnerstag in Lissabon in einem diskreten Rahmen unterzeichnet. Bereits vor drei Jahren haben die EU-Regierungschefs einen Verfassungsentwurf signiert, der jedoch anschliessend von den Franzosen und Holländern in Referenden abgelehnt wurde.

Bevor er 2009 in Kraft treten kann, muss der neue Reformvertrag von den 27 EU-Staaten ratifiziert werden. Nach dem Fiasko von 2005 geschieht dies in den EU-Staaten durch das Parlament. Einzig in Irland ist dafür zwingend eine Volksabstimmung vorgeschrieben.

swissinfo sprach mit René Schwok, Professor an der Hochschule für internationale Studien und Entwicklung in Genf, über mögliche Auswirkungen des Reformvertrages auf die Schweiz.

swissinfo: Im Gegensatz zur Unterzeichnung des Verfassungsentwurfs vor drei Jahren ist die Unterzeichnung des Vertrags in Lissabon sehr diskret verlaufen.

René Schwok: Damals wurde die Sache etwas hochgespielt. Man sprach von einer Revolution. Heute ist das Gegenteil der Fall. Die Bedeutung des Reformvertrags wird unterschätzt. Es heisst, mit der Unterzeichnung dieses Vertrages ändere sich nicht viel.

Die wirkliche Bedeutung des Vertrags liegt zwischen diesen beiden Extremen. Der Verfassungsentwurf war kein grosser Vertrag, doch er enthielt trotzdem einige bedeutende Fortschritte. Obwohl der heutige Reformvertrag vom Verfassungsentwurf nicht stark abweicht, wird der Eindruck vermittelt, der Vertrag beinhalte nichts Neues. Das ist doch etwas untertrieben.

Mit dem neuen Vertrag wird Europa weder mehr noch weniger zentralisiert sein. Die Beziehungen zwischen Brüssel und den EU-Staaten werden sich grundsätzlich nicht verändern. Die EU bleibt ein politisches Gebilde, das nicht mit dem föderalen System verglichen werden kann. Es ist heute ungewiss, wie die definitive Verfassungsstruktur ausfallen wird. Die europäische Konstruktion ist immer noch im Bau.

swissinfo: Wird der Vertrag von Lissabon die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU verändern?

R.S.: Ich denke nicht, dass sich die Beziehungen dadurch verändern werden. Die Hindernisse, die in der Schweiz einem EU-Beitritt im Wege stehen, bleiben grundsätzlich die gleichen. Der Vertrag wird einen EU-Beitritt der Schweiz weder erleichtern noch erschweren.

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Volksinitiative

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Volksinitiative erlaubt den Bürgerinnen und Bürgern, eine Änderung in der Bundesverfassung vorzuschlagen. Damit sie zu Stande kommt, müssen innerhalb von 18 Monaten 100’000 gültige Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht werden. Darauf kommt die Vorlage ins Parlament. Dieses kann eine Initiative direkt annehmen, sie ablehnen oder ihr einen Gegenvorschlag entgegenstellen. Zu einer Volksabstimmung kommt es…

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swissinfo: Der Reformvertrag sieht für die EU-Bürger ein Instrument vor, dass der Schweizer Volksinitiative ähnlich ist. Könnte dies eventuell die EU-Skeptiker in der Schweiz, welche die direkte Demokratie verteidigen, überzeugen?

R.S.: Es handelt sich dabei nicht um ein Initiativrecht an sich, sondern um ein Petitionsrecht. Mit einer Million Unterschriften können EU-Bürger die EU-Kommission dazu auffordern, ein neues Gesetz auszuarbeiten.

Falls das Bürgerbegehren von der EU-Kommission angenommen wird, entscheiden aber das Parlament und der Ministerrat und nicht die EU-Bürger über den Gesetzesvorschlag. Das ist ein grosser Unterschied zur Schweizer Volksinitiative.

Meiner Meinung nach genügt das Petitionsrecht nicht, um die EU-Skeptiker in der Schweiz zu überzeugen.

swissinfo: Der Reformvertrag verleiht der EU-Kommission mehr Kompetenzen. Könnte der Vertrag die bilateralen Verhandlungen zwischen Brüssel und der Schweiz vereinfachen?

R.S.: Die EU pflegt mit der Schweiz vor allem wirtschaftliche Beziehungen, die im übrigen gut funktionieren. Diesbezüglich wird sich nichts ändern.

Was sich ändern wird, ist die Funktion des EU-Aussenbeauftragten. Als “Hoher Vertreter der Union” soll dieser die Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik besser koordinieren können.

swissinfo-Interview: Marc-André Miserez
(Übertragung aus dem Französischen: Corinne Buchser)

Bürgerbegehren: Mit einer Million Unterschriften können die EU-Bürger die Kommission dazu auffordern, dem Parlament und dem Ministerrat einen Gesetzesvorschlag zu unterbreiten.

EU-Ratspräsident: Ein auf zweieinhalb Jahre gewählter Präsident soll in der EU für mehr Kontinuität sorgen. Bislang wechseln sich die 27 EU-Staats- und Regierungschefs alle sechs Monate auf dem Chefsessel ab.

EU-Kommssion: Während gegenwärtig alle 27 EU-Länder ihren eigenen Kommmissar haben, werden ab 2014 nur noch zwei Drittel der Mitgliedstaaten in der Brüsseler Behörde vertreten sein.

Veto: Die Veto-Möglichkeiten werden eingeschränkt. Derzeit sind Beschlüsse in vielen Bereichen nur möglich, wenn die EU-Staaten Einstimmigkeit erzielen. Künftig sollen Mehrheitsentscheidungen die Regel sein, damit nicht länger ein einzelner Mitgliedstaat alle übrigen 26 blockieren kann.

Die Vetomöglichkeit entfällt ab 2009 insbesondere in der EU-Innen- und Justizpolitik.

Bei Steuerfragen, in der Aussenpolitik und der Sozialen Sicherheit sowie in einigen anderen Bereichen bleibt es beim Einstimmigkeitsprinzip.

“Hoher Vertreter der Union für die Aussen- und Sicherheitspolitik”: Dieser soll ab 2009 die bisherigen Doppelspurigkeiten zwischen dem EU-Aussenbeauftragten des Rates und dem Vizepräsidenten der Kommission beenden.

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