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Fakten und Zahlen gegen fremdenfeindliche Gerüchte

Vorurteile gegenüber ausländischen Rentenbezügern sollen abgebaut werden. swissinfo.ch

Ausländer profitieren von der Invalidenversicherung (IV) nicht mehr als Schweizer. Eine Studie des Bundesamtes für Sozialversicheurng (BSV) beweist sogar das Gegenteil.

Das BSV kritisiert in diesem Zusammenhang “populistische Manipulationen”.

Schweizerinnen und Schweizer beziehen eher eine Rente bei der Invalidenversicherung (IV) als Ausländer. Gemäss dem Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) ist die Wahrscheinlichkeit eines Rentenbezugs für Schweizer Beitragszahlende fast doppelt so hoch.

Dies schreibt BSV-Vizedirektorin und IV-Chefin Beatrice Breitenmoser in einem am Donnerstag veröffentlichten Fachartikel. Sie, die als Ko-Autorin an der Studie mitbeteiligt war, strebt damit eine Versachlichung der Diskussion an.

Die Zahl der ausländischen Rentenbezüger habe zwar Anfang der 90er-Jahre deutlich zugenommen, seit etwa 1995 sei ihr Anteil aber stabil geblieben. Das Verhältnis zwischen schweizerischen und ausländischen Rentenbezügern liegt seither bei etwa 65 zu 35 Prozent.

Wird nur jener Bevölkerungsteil berücksichtigt, der auch effektiv in die IV einzahlt, ist die Wahrscheinlichkeit eines Rentenbezugs für Schweizer fast doppelt so hoch wie für Ausländer. Und dies laut Breitenmoser, obwohl Ausländerinnen und Ausländer eher erwerbstätig sind und zudem zum grösseren Teil in Branchen mit einem höheren Invaliditätsrisiko arbeiten.

Kein besonderes Missbrauchspotenzial bei Auslandgesuchen

Die IV-Chefin bestreitet die Behauptung, ein gewichtiger Teil der Renten werde ins Ausland ausbezahlt. Von der gesamten Rentensumme werden elf Prozent oder 47 Millionen Franken ins Ausland ausbezahlt, teilweise aber auch an ausgewanderte Schweizerinnen und Schweizer.

Laut Breitenmoser besteht bei Rentengesuchen aus dem Ausland kein spezielles Missbrauchspotenzial. Die IV sei auch bei der Beurteilung dieser Fälle nicht an die Einschätzung ausländischer Sozialversicherungen oder Ärzte gebunden. Wie alle anderen Gesuche würden auch solche aus dem Ausland auf der Basis des Schweizer Rechts und durch Fachleute der IV geprüft.

Versachlichung gegen rechtspopulistische Gerüchtekampagne

Mit der Veröffentlichung des Artikels will Breitenmoser einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion um “Scheininvalide” leisten. Den Ausdruck hatte SVP-Nationalrat Christoph Blocher noch vor seiner Wahl zum Bundesrat in die öffentliche Diskussion gebracht.

“Der Artikel soll helfen, sachliche Gegebenheiten von populistischen Unterstellungen und subjektiven Eindrücken zu trennen”, sagte Breitenmoser gegenüber swissinfo. “Mit den spzifischen Evaluationen über die verschiedenen aufgebrachten Fragen wollen wir eine neutrale Diskussionsbasis schaffen.”

Kritik an der ‘Rundschau’

“Die Fernsehsendung ‘Rundschau’ vom 17. Dezember zum Thema präsentierte keine Zahlen und spielte mit subjektiven Emotionen”, so Breitenmoser weiter. “Unser Dokument ist eine Antwort auf die ‘Rundschau’, die viele Leserbriefe und parlamentarische Interventionen provoziert hat. Sogar die Eidgenössische Ausländerkommission intervenierte bei SF DRS.”

“Die ‘Rundschau’-Sendung war an der Grenze der populistischen Manipulation. Sie liess lediglich Raum für Emotionen, aber nicht für konkrete und neutrale Informationen”, so Breitenmoser zu swissinfo.

SVP bezweifelt Neutralität des BSF

Die in der BSV-Studie indirekt kritisierte Schweizerische Volkspartei (SVP) hat sofort reagiert. “Es ist absolut lächerlich zu behaupten, es handle sich dabei um neutrale Zahlen und Fakten”, sagte SVP-Sprecher Yves Bichsel gegenüber swissinfo.

“Das BSV wird von einem freisinnigen Bundesrat geführt. Und seine Partei hat die Wahlen verloren. Versucht er jetzt etwa, die Frustration über die Wahlniederlage zu überwinden? Ich weiss es nicht.”

Wer die IV kenne, wisse, dass die Probleme gross seien. Es genüge, die erhöhten Ausgaben und den Anstieg der IV-Rentner-Zahl anzuschauen. “Wir sprechen nicht nur über die Renten, die ins Ausland fliessen, sondern auch über jene, welche an die in der Schweiz lebenden Ausländer gehen”, so Bichsel.

Die SVP werde weiterhin Druck für eine Revision des IV-Gesetzes ausüben. Das ganze System müsse dringend geändert werden. “Das Volk stimmt noch in diesem Jahr über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der IV ab. Wir werden sehen, ob sich eine Mehrheit dafür ausspricht”, erklärte Bichsel.

Schweizer haben mehr psychische Gebrechen als Ausländer

Den grössten Teil der ausländischen Rentenbezüger stellen die Italiener mit 12 Prozent. Am stärksten zugenommen haben 2002 die Bezüger aus der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien mit 15 Prozent.

Ein Blick auf die Neurentner im Jahr 2002 zeigt weiter, dass die Schweizerinnen und Schweizer stärker als Ausländer an psychischen Gebrechen leiden, die grösste Ursache für einen Rentenbezug überhaupt.

Die Ausländer waren dagegen stärker von Gebrechen im Bereich Knochen und Bewegungsorgane betroffen. Angesichts der grossen Zahl von Ausländern in der Baubranche sei dieses Ergebnis nicht weiter erstaunlich, sagte die IV-Chefin.

Als Besorgnis erregend stuft Beatrice Breitenmoser jedoch die von der Nationalität unabhängige Zunahme von jungen Rentenbezügern mit psychischen Problemen ein. Diese Menschen blieben danach lange Jahre in der IV. Die vorgesehene 5. Revision müsse hier Lösungswege aufzeigen.

swissinfo und Agenturen

Invalidenversicherung 2002:

Ausgaben: 10 Mrd. Fr.

Defizit: 1,2 Mrd. Fr.

11% (47 Mio. Fr.) der gesamten Rentensumme ins Ausland ausbezahlt (auch an ausgewanderte Schweizer)

Schweizerinnen und Schweizer sind eher invalid als Ausländerinnen und Ausländer. Seit Mitte der 90er Jahre ist der Anteil der ausländischen Rentenbeziehenden bei 35 Prozent stabil, stellt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) fest.

Mit einer am Donnerstag veröffentlichten Studie will das BFS einen Beitrag dazu leisten, “sachliche Gegebenheiten von populistischen Unterstellungen oder von subjektiven Eindrücken zu trennen”. Das Amt will Vorurteile richtig stellen, wonach vor allem Menschen aus dem Ausland eine IV-Rente beziehen würden.

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