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Finanzkrise stellt Demokratie auf den Prüfstand

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Auslieferung von UBS-Kundendaten und Aktenvernichtung Tinner. Da hat die Regierung eigenmächtig -unter Umgehung des Parlaments und der Gerichte - entschieden. Thomas Fleiner plädiert deshalb im Gespräch mit swissinfo für eine Verfassungsänderung.

Der emeritierte Staatsrechtler Thomas Fleiner war bis 2008 Direktor des Instituts für Föderalismus an der Univesrität Freiburg.

swissinfo: Die Finanzmarktaufsicht hat mit dem Segen der Regierung Daten von US-Kunden ausgeliefert, ohne die laufenden Gerichtsverfahren abzuwarten. Wie ist das mit der in der Verfassung verankerten Gewaltentrennung zu vereinbaren?

Thomas Fleiner: Ich halte den Entscheid für problematisch, wobei ich davon ausgehen muss, dass er verfassungsrechtlich abgestützt ist.

Für völlig falsch und rechtsstaatlich höchst problematisch halte ich die Verfassungsbestimmung, also den Artikel 189, wonach Entscheide des Bundesrates oder solche der Bundesversammlung nicht durch das Bundesgericht überprüfbar sind.

Das ist rechtsstaatswidrig. Ich bin der Meinung, dass solche Entscheide des Bundesrates letztlich auf verfassungsrechtlicher Grundlage zu überprüfen und deshalb dem Bundesgericht zu unterstellen wären.

Es gibt ein Grundprinzip des Rechtsstaates, das heisst: Jede Behörde muss gegenüber einer andern Behörde verantwortlich sein und muss zur Rechenschaft gezogen werden können.

swissinfo: Der Herausgabe der UBS-Kundendaten und der Aktenvernichtung im Atomschmuggelfall Tinner ist gemeinsam, dass Parlament und Rechtsweg umgangen worden sind. Muss Ihrer Ansicht nach die Verfassung geändert werden?

T.F.: Wie gesagt, ich bin der Meinung, dass der erwähnte Artikel überhaupt nicht mehr zeitgemäss ist. Hier müsste klar verankert werden, dass jeder Entscheid des Bundesrates oder des Parlaments letztlich auf die Verfassung hin zu überprüfen ist. Das wäre auch im Zusammenhang mit der Europäischen Menschrechtskonvention notwendig.

swissinfo: Die Schweiz unterscheidet zwischen Steuer-Hinterziehung und -Betrug. Hinterziehung heisst, man unterlässt es, gewisse Einkünfte zu deklarieren, Betrug setzt Fälschung von Dokumenten voraus. Was ist aus juristischer Sicht von dieser Unterscheidung zu halten?

T.F.: Die Schweiz hat im Grunde genommen seit dem 16. Jahrhundert ein ganz anderes System der Steuererklärung als alle anderen Staaten.

Schon damals stellte der grosse Wirtschaftstheoretiker Adam Smith fest, dass die Schweizer als bäuerliche Nation viel eher bereit seien, ihr Eigentum und ihr Vermögen zu deklarieren, als beispielsweise die Hamburger Kaufleute, die mit ihrem Vermögen immer pokern müssen und darum nichts sagen können über ihr Vermögen. Die Bauern hingegen, die zeigen ihr Vermögen in ihren Häusern. Das ist deklariert, das ist ersichtlich.

Darum haben wir in der Schweiz seit Langem ein völlig anderes Steuersystem, das von der Idee ausgeht, dass jeder sein Einkommen und sein Vermögen selber zu deklarieren hat.

In diesem Zusammenhang muss das Problem über die Frage Steuerhinterziehung oder Steuerbetrug gesehen werden. Unser Rechtssystem kennt zwei verschiedene Werte: Die Ordnung durch die Verwaltung und die Ordnung durch das Strafrecht.

Wir gehen davon aus, dass eine Steuer-Hinterziehung eine Verletzung der Ordnung der Verwaltung ist und darum ganz anders bestraft wird als der Steuerbetrug. Betrug hingegen ist eine Lüge, ein offensichtlicher Unwert gegenüber der Gesellschaft und ist durch das Strafrecht geschützt.

Diese Überlegung ist in andern Ländern kaum durchzubringen, denn dort wird Hinterziehung und Betrug als Unwert, als Diebstahl gegenüber der Gesellschaft angesehen. Derjenige, der die Steuern hinterzieht, ist nicht solidarisch. Darum können andere Länder es kaum verstehen, dass wir diesen Unterschied haben zwischen Steuer-Hinterziehung und -Betrug.

swissinfo: Die USA verlangen die Herausgabe der Daten von mehr als 40’000 weiteren US-Kunden. Wie soll sich die Regierung in dieser Situation verhalten?

T.F.: Sie können von einem Rechtsprofessor nicht erwarten, dass er sagt, wie man aus dieser Situation heraus kommen kann. Ich bin aber der Meinung, dass wir ein Konzept haben müssen, das zum Ausdruck bringt, dass die Schweiz mit den andern Staaten solidarisch ist.

Wir sind alle in der gleichen Finanzkrise und wir müssen alle dafür sorgen, dass die Steuerzahler bereit sind, gegenüber dem Staat und gegenüber der Wirtschaft ihre Leistungen zu erbringen. Das setzt Zusammenarbeit auf internationaler Ebene und ,ich würde meinen, auch im Bereich des Steuerwesens voraus.

swissinfo: Wieweit verletzt denn ein Nachgeben die Steuerhoheit der Kantone?

T.F.: Wir sind in einer Zeit der Globalisierung. Dies hat in allen Ländern eine Übertragung von Exekutivgewalten zur Folge. Mit der Internationalisierung ist zudem eine gewisse Zentralisierung verbunden.

Die Frage der Steuerhinterziehung ist nicht eine Frage der kantonalen Autonomie oder der Gemeindeautonomie, sondern eine Frage des schweizerischen Verwaltungsrechts. Das heisst, wenn wir etwas ändern, dann müssen eben auch die Kantone und die Gemeinden ihr Verwaltungsrecht entsprechend anpassen. Das ist ein universeller Grundsatz.

swissinfo: Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf sagt, sie könne sich vorstellen, dass “grobe” Steuer-Hinterziehung künftig unter Strafe gestellt würde und damit auch unter die Rechtshilfe fallen würde. Kann man “grob” überhaupt definieren?

T.F.: Auch im Strafrecht haben wir den Unterschied zwischen grober Fahrlässigkeit und Fahrlässigkeit. Das ist natürlich ein Begriff, der nicht so einfach und klar festlegbar ist, wie zwei mal zwei gibt vier, aber er ist festlegbar durch die Praxis der Gerichte.

Ich halte das durchaus für möglich und für verwirklichbar, weiss aber nicht, ob das dann gegenüber dem Ausland genügt.

swissinfo-Interview, Andreas Keiser

wurde am 16. Juli 1938 in Zürich geboren.

war zwischen 1969 und 2008 Professor an der Universität Freiburg. Zuerst als Assistent und seit 1971 ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht.

“Mein Professor hat mir damals gesagt, als Katholik habe ich an der Universität des Zwinglikantons keine Chance.”

1975 bis 1983: Mitglied des IKRK.

von 1983 bis 1985: Dekan der Juristischen Fakultät.

1984: Gründung des Instituts für Föderalismus.

Fleiner war auch Gast-Professor an den Universitäten von Jerusalem, Rouen, Belgrad und an der Cardozo Law School in New York.

Er ist Autor verschiedener Bücher zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht.

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