Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

“Die Stimmung ist wichtiger als Stars und Glamour”

Keystone

Während Festivalpräsident Marco Solari bei der Eröffnungszeremonie des 61. Internationalen Filmfestivals von Locarno von Wachstum sprach und Filmchef Nicolas Bideau seit Jahren mehr Glamour predigt, geniessen die Zuschauer den ungezwungenen Rahmen.

Vor der Vorführung des britischen Eröffnungsfilms “Brideshead Revisited” mit Emma Thompson herrscht auf der Piazza Grande, die von einer pittoresken Altstadtkulisse umgeben ist, lockere Stimmung.

Die wartenden Besucher diskutieren, essen Crêpes oder Pizza, trinken Pepsi aus dem Pappbecher oder studieren versunken das Filmprogramm. Hier gibt es weder nummerierte Sitze noch einen Dresscode: Turnschuhe, Klettsandalen und kurze Hosen dominieren Abendkleider und Anzüge.

Kurz vor Filmbeginn verfärbt sich der Himmel über der Leinwand gefährlich gelb, und ein halbstündiger Regen ergiesst sich in die tropische Hitze. Während einige Festivalbesucher die Flucht ergreifen, bleiben viele stoisch sitzen, spannen ihren Regenschirm auf, ziehen eine Plastikpelerine über oder halten schützend eine Pizza-Schachtel über den Kopf.

Starkes Publikum

“Die wahre Kraft in Locarno ist das Publikum”, sagt Festivalpräsident Marco Solari.

Das Filmfestival selbst muss vor allem der harten Konkurrenz der grossen Filmfestivals in Cannes, Venedig und Berlin trotzen. “Das Festival muss wachsen”, sagt Solari fast beschwörend, “wenn wir stehen bleiben, sind wir erledigt.”

Auch Nicolas Bideau, Filmchef beim Bundesamt für Kultur, sitzt im Publikum. Er ist nicht auf die zusätzliche Schlechtwetter-Filmvorführung im Fevi-Saal ausgewichen. Mit aufgestütztem Kinn und kritischem Blick beobachtet er die Eröffnungszeremonie, bei der neben Solari auch der nächstes Jahr abtretende Festivaldirektor Frédéric Maire, der Regisseur und die Produzenten von “Brideshead Revisited” auftreten.

Glamour als Erfolgsrezept?

Bideaus Rezept für mehr Erfolg und mehr Gewinn heisst Glamour. An den Schweizer Filmfestivals, so das Mantra des Filmchefs, brauche es nicht nur programmliche Qualität, sondern auch Stars, rote Teppiche und Awards. Das Publikum komme auch, um Stars zu sehen.

Anders tönt es bei Solari. In Locarno seien die Filme die Stars, so der Festivalpräsident. Locarno sei ein Ort der Entdeckungen.

Angesichts der relativ bescheidenen Finanzen und der mangelnden Infrastruktur fragt man sich jedoch, ob das Festival Locarno nicht mehr Stars will oder einfach nicht mehr “einkaufen” kann.

Locarno hat auch keine Suiten zu bieten: Vor Ort gibt es kein 5-Stern-Hotel mehr – sie wurden an Immobilienhändler verkauft und abgerissen.

Symbolisch dafür ist das über 125-jährige Grand Hotel Locarno. 1946 wurde im Hotelpark das erste Filmfestival durchgeführt. In den folgenden Jahren gingen Stars wie Marlene Dietrich oder Andrei Tarkowski durch die mondänen Hotelhallen.

Pavillon statt Grand Hotel

Bis es vor ein paar Jahren geschlossen wurde, war das legendäre Hotel Festival-Treffpunkt der Filmer, Produzenten und Besucher. Denner-Erbe und Multimillionär René Schweri hat sich letztes Jahr das Vorverkaufsrecht gesichert.

Ob er tatsächlich Besitzer wird und dem Festival den gediegenen Rahmen zurückgeben und sein Renovierungsprojekt realisieren kann, ist nicht klar: Schweri wartet auf einen Entscheid der Gemeinde Muralto.

Als Alternative zum Grand Hotel hat das Festival einen weissen Plastik-Pavillon beim Haupteingang der Piazza aufgestellt.

Zufriedenes Publikum

Trotz einigen infrastrukturellen Schönheitsfehlern macht der Reiz von Locarno das Unkomplizierte und die zufälligen Begegnungen mit Cineasten aus, die vor einem in der Warteschlange stehen oder am Nebentisch Kaffee trinken.

Hier treffen cinephile Stammgäste mit Leuten zusammen, die ihre Ferien am Lago Maggiore mit einem Abstecher ans Festival verbinden. Glamour suchen hier die wenigsten – im Gegenteil: viele schätzen gerade, dass in Locarno nicht wie etwa in Cannes mit der grossen Kelle angerührt wird.

Es brauche Highlights, aber das müssten nicht unbedingt Stars wie Angelina Jolie oder Brad Pitt sein, sagt ein Deutschweizer Besucher in Anzug und mit Zigarre.

Wenn jemand Bekanntes nach Locarno komme, freue man sich. Wenn nicht, mache es auch nichts, sagt eine junge Frau, die zu den vielen Stammgästen zählt. “Wenn es mehr Glamour hätte, wäre das Festival nicht mehr dasselbe. Ein vielseitiges und interessantes Filmangebot und die Stimmung sind wichtiger als Stars.”

“Ich persönlich brauche keinen Glamour”, sagt der Schweizer Filmemacher Villi Hermann. Er gehe nach Locarno, um gute Filme zu sehen und Filmleute zu treffen und nicht wegen irgendwelchen Persönlichkeiten.

“Mir gefällt Locarno, so wie es ist”, sagt ein Tessiner Habitué.

swissinfo, Corinne Buchser, Locarno

Das Internationale Filmfestival von Locarno findet vom 6. bis 16. August statt.

Das grösste Filmfestival der Schweiz hat im Vergleich mit ausländischen Festivals mit 11,1 Mio. Franken ein relativ bescheidenes Budget.

Der Bund hat letztes Jahr zwar die Subventionen von jährlich 1,2 Mio. auf 1,35 Mio. Franken leicht aufgestockt. Das reicht jedoch kaum, um im internationalen Wettbewerb mitzuhalten.

Das Filmfestival hat namentlich mit infrastrukturellen Problemen zu kämpfen: Es mangelt nicht nur an nahegelegenen Hotelbetten, sondern auch an adäquaten Räumlichkeiten für Empfänge, die für die Filmbranche von Bedeutung sind.

“Glamour! Carpets! Awards! – What for?”, unter diesem Titel findet am 12. August im Rahmen des “Journée du Cinéma Suisse” ein Podiumsgespräch statt. Daran nehmen neben Filmchef Nicolas Bideau Filmschaffende, Kritiker und Preisverleiher teil.

Die Schweizer Filmfestivalszene tut sich bisher eher schwer mit dem Glamour.

Die alljährliche Filmpreisverleihung, die bis vor kurzem noch ohne jeglichen Pump an den Solothurner Filmtagen über die Bühne ging, wird dieses Jahr nach Luzern verlegt. Filmtradition hat Luzern zwar keine vorzuweisen, dafür aber das KKL, das der Preisverleihung für die neu geplanten Fernsehübertragungen eine mondäne Note verleihen soll.

Eine Ausnahme unter den Festivals bildet das 2005 entstandene Zürich Film Festival. Dieses zelebriert Filmpromis und Partys.

Es kam 2007 in die Gunst von Subventionen in der Höhe von 50’000 Franken. Das Zurich Film Festival könne bei der Filmauswahl noch Fortschritte machen, so Bideau. Es überzeuge aber durch seine Energie und die Veranstaltungen.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft