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Ein Restrisiko bleibt

Wenige Minuten nach dem Unfall quillt Rauch aus dem Entlüftungsschacht des Tunnels. Keystone

Am 24. Oktober 2001 verloren 11 Menschen in Folge eines Brandunfalls im Gotthard-Strassentunnel ihr Leben.

Das Drama im Tunnel und seine Folgen machten die Fragilität und Wichtigkeit der Gotthard-Strecke als klassische Nord-Süd-Transitachse deutlich.

Es war genau 9.39 Uhr. Ein belgischer Lastwagen gerät einen Kilometer nach dem Südportal bei Airolo auf die Gegenfahrbahn und kollidiert mit einem entgegenkommenden Camion.

Beide Fahrzeuge fangen Feuer. Trotz des Ventilations-Systems breiten sich unmittelbar giftige Gase im Tunnel aus. In kürzester Zeit entsteht ein Inferno. Es herrscht Panik. Elf Personen verlieren ihr Leben, sie sind alle erstickt.

Nach dem ersten Schock wird Kritik am überbordenden, alpenquerenden Schwerverkehr laut. Der Tunnel, eine Hauptachse des internationalen Nord-Süd-Verkehrs, bleibt fast zwei Monate lang geschlossen. In Rekordzeit wird aufgeräumt und das beschädigte Tunnelinnere repariert.

Ein Blick zurück

Schon vor dem Desaster im Gotthard-Tunnel gab es ähnliche Ereignisse, am Mont-Blanc und im Tauerntunnel. Wie lässt sich das erklären? Früher war es ein echtes Abenteuer, die Alpen zu überqueren. Der Berg war eine Herausforderung. Seine Gesetze bestimmten Erfolg, Zeitpunkt und Dauer einer Reise.

Der Bau der Alpentunnel banalisierte das Unterfangen der Alpenquerung. Die Nachfrage nach Mobilität wurde sogar begünstigt und stimuliert. Die Folge war ein extremer Zuwachs des Verkehrsaufkommens in den Tunneln.

Seit der Eröffnung des Gotthard-Strassentunnels im Jahre 1980 hat sich der Verkehr in der Röhre mehr als verdoppelt. Der Schwerverkehr allein ist sogar um 400 Prozent angestiegen! “Bis heute macht der Schwerverkehr aber nicht einmal 20 Prozent des Gesamtverkehrs aus”, versucht Hans-Peter Tanner vom Schweizerischen Nutzfahrzeugverband (Astag) zu relativieren.

Restrisiko bleibt

Natürlich gab es bereits vor dem 24. Oktober Unfälle im Tunnel: 16 Personen haben dort ihr Leben gelassen. Doch nach Meinung der Behörden ist die 17 Kilometer lange Röhre zwischen Airolo und Göschenen nicht gefährlicher als andere Strassen.

“Die Gotthard-Passstrasse ist wesentlich gefährlicher als der Tunnel”, behauptet Michael Gehrken, Sprecher des Bundesamtes für Strassen (Astra). Die Unfallgefahr im Tunnel sei relativ gering, allerdings – räumt er ein – könnten die Folgen eines allfälligen Unfalls, insbesondere in Verbindung mit einem Brand, verheerend sein.

Ein Unfall kann jederzeit passieren. “Das ist uns natürlich bewusst”, sagt Marco Guscio, Chef der Tessiner Strassenpolizei. “Wir wissen, dass es auch in diesem Moment passieren kann. Deshalb sind wir jederzeit gewappnet.”

Höhere Sensibilität, geringere Geschwindigkeit

“Die Sicherheit auf den Strassen hatte für uns immer Priorität”, unterstreicht Astra-Sprecher Gehrken. Der Unfall habe insofern die Philosophie seines Amtes nicht verändert. “Aber die Einstellung der Gesellschaft zum Strassenverkehr, insbesondere in Bezug auf den Gotthard-Tunnel, hat sich geändert.”

Gemäss Gehrken schlägt sich dies im Fahrverhalten nieder. Die Fahrer verhielten sich heute vorsichtiger im Tunnel. Die Geschwindigkeiten seien gemässigter, die Sicherheitsabstände zwischen den Fahrzeugen würden eingehalten.

Drei verschiedene Systeme

Das Drama im Gotthard-Tunnel wurde rein verkehrstechnisch in Etappen bewältigt. Zuerst gab es eine Totalsperrung des Tunnels, was insbesondere für das Tessin negative Folgen hatte.

Nach der Wiedereröffnung am 21. Dezember 2001 führte das Verkehrsdepartement eine Einbahnregelung im Tunnelinneren ein. Dieses so genannte Dosiersystem hat die Zahl der Camions stark reduziert. Fuhren vor dem Unglück im Durchschnitt 4500 Lastwagen durch den Tunnel, waren es dann nur noch 2800. Gleichzeitig war der Verkehrsfluss auf den Zufahrtsrampen aber stark behindert.

“Nie zuvor haben wir so viele Probleme gehabt, und nie zuvor mussten wir uns so häufig beschimpfen lassen wie in diesem Jahr”, erinnert sich Marco Guscio. “Alle haben sich beklagt: Chauffeure, Anwohner, Automobilisten, Wirtschaftsvertreter und Politiker.” Die Polizei habe einen enormen Einsatz leisten müssen.

Seit Anfang Oktober ist ein “Tropfenzählersystem” in Kraft. Das Kreuzungsverbot im Tunnel wurde aufgehoben, die Camions werden nun in einem Sicherheitsabstand, aber mit Camion-Gegenverkehr, durch den Tunnel geschleust.

“Das System verbessert die Situation gegenüber der Dosierung mit Einbahnverkehr”, meint Hans-Peter Tanner. Der Astag spreche sich aber nach wie vor für eine vollständige Beseitigung dieser Dosierstellen aus. Er bezeichnet diese als “künstliche Hindernisse” für den freien Verkehrsfluss.

Eine “gestresste” Verbindung

Die Prognosen der Verkehrsentwicklung sagen für die Schweiz und für Europa einen weiteren Verkehrszuwachs für die kommenden Jahre voraus. Sicher scheint aber auch, dass die Strassen-Infrastrukturen immer näher an ihren Sättigungspunkt kommen.

Dies gilt insbesondere für den Gotthard. Diese wichtige Verkehrsachse durch die Alpen hatte in den letzten Jahren den grössten Zuwachs zu verzeichnen.

swissinfo, Marzio Pescia

Die Behörden haben eine Verhaltensänderung bei den Automobilisten festgestellt. Heute wird vorsichtiger gefahren, die Sicherheitsabstände werden eingehalten.

24. Oktober 2001: Brandunfall um 9.39 Uhr
Elf Todesopfer
1981: 3’22’000 Transitfahrten im Tunnel
2001: 7’050’000 Transitfahrten; davon 20% Schwerverkehr
LSVA: Ein 40-Tönner bezahlt bis zu 200 Franken für den Transit Chiasso-Basel
Keine speziellen Tunnelgebühren
Gebühren für Tunnel Fréjus oder Mont-Blanc: 300 Franken

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