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EU-Erweiterung – Thema für die Schweiz?

Mit der EU-Erweiterung fielen politische wie wirtschaftliche Grenzen. Keystone

Seit dem 1. Mai 2004 besteht die EU aus 25 Mitglied-Staaten – eine historische Erweiterung. Wie soll die Schweiz mit dieser grösseren Partnerin umgehen?

Mit dieser Frage beschäftigte sich kürzlich das Seminar “EU-Erweiterung: Eine Bilanz” in Bern.

Europa wächst immer mehr zusammen. Mit dem EU-Beitritt der acht Staaten Mitteleuropas – Estland, Lettland, Litauen, Polen Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn sowie Malta und Zypern ist die EU-Bevölkerung über Nacht von 375 auf 450 Mio. Einwohner angewachsen.

Die Erweiterung ist auch für die Schweiz von grosser Bedeutung, ist sie doch vom grössten freien Markt der Welt umgeben. Aus diesem Grund müssen die Freihandelsbeziehungen mit der neuen Union erweitert werden.

Dabei ist die Ausdehnung der bisherigen bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU von besonderer Bedeutung und Brisanz, insbesondere die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Staaten.

Das Forum Ost-West veranstaltete dazu am 11. Mai in Bern die Tagung “EU-Erweiterung: Eine Bilanz”. Dabei standen die Chancen und Risiken für die Schweiz im Vordergrund.

Unbegründete Ängste

Fazit nach dem ersten Jahr der EU-Erweiterung auf 25 Mitglieder: Die Ängste, dass “westliche” Waren und Dienstleistungen den Markt und die Unternehmen der neuen Mitgliedländer zerstören würden, haben sich nicht bestätigt.

Auf der anderen Seite seien auch diejenigen Ängste unbegründet, dass nach der Öffnung der Grenzen im Rahmen des freizügigen Personenverkehrs eine Welle von billigen Arbeitskräften aus Osteuropa über Schweiz rollen würde, sagt Peter Havlik, Direktor des Wiener Institutes für Internationale Wirtschaftsvergleiche.

Er dokumentiert seine Ansicht mit der dort herrschenden niedrigen Mobilität. Zudem sei es einfacher, einen Job in der Heimat zu finden als in den stagnierenden Märkten Westeuropas.

Ein weiterer, die Mobilität bremsender Faktor sei auch die relativ hohe Anzahl an Eigenheim-Besitzenden in Mittel-Osteuropa. Deshalb seien die zwischen der Schweiz und der EU vereinbarten Übergangsfristen völlig unnütz.

Havlik ist gar der Ansicht, sie seien “völlig sinnlos” und rein politisch motiviert.

Aufholjagd in vollem Gang

Die Aufholjagd der zehn Neumitgliedern geht unterdessen weiter. Um auf dasselbe Niveau wie die “alten” EU-Staaten zu gelangen, brauchen sie ein drei- bis viermal höheres Wachstum als jene. Und dies bedeute für die Zukunft noch keine Garantie, erklärte Professor Andràs Inotai, Generaldirektor des Instituts für Weltwirtschaft der ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest.

In den letzten Jahren hätte es keine grosse Abwanderung aus den neuen Mitgliedsländern gegeben, sagte Inotai weiter. “Bei den neuen Mitgliedern ist eben stark investiert worden”, begründet er.

Die wirtschaftliche Integration der neuen Mitglieder sei recht positiv. Es sei aber nötig, dass die EU nun als Weltmacht auftrete. “Europa ist ein wirtschaftspolitischer Riese, aber ein globalpolitischer Zwerg”, so Inotai.

Dem eigentlichen Thema, eine Bilanz der EU-Erweiterung zu ziehen, wurde die Tagung aber nicht ganz gerecht. Sie stand eher im Bann der bevorstehenden Abstimmungen zu Schengen/Dublin und vor allem zur erweiterten Personenfreizügigkeit.

Auf den Ruf der Schweiz Acht geben

André von Graffenried, Botschafter der Schweiz in Polen, fürchtet im Fall einer Ablehnung der erweiterten Personenfreizügigkeit, dass der Ruf der Schweiz empfindlich Schaden nehmen würde. Dies würde als Affront gegenüber Europa empfunden.

Von Graffenried ist überzeugt, dass die Schweiz in einem solchen Fall auch wirtschaftliche Einbussen hinnehmen müsste.

Zusätzliche Märkte

Laut Thomas Kolly vom Integrationsbüro EDA/EVD, wird es in der Schweiz nicht möglich sein, wie in Deutschland Metzger aus Polen einzustellen und damit die Lohnkosten zu pulverisieren. Dazu gebe es in der Schweiz die flankierenden Massnahmen.

Und Jean-Luc Nordmann, Direktor für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft (seco), ist überzeugt, dass die EU-Erweiterung der Schweizer Wirtschaft zusätzliche Märkte erschliesse und auch zusätzliche Konsumenten generieren wird. Es sei aber auch wichtig, dass die Schweiz Personen aus diesen Ländern als Arbeitskräfte rekrutieren könne.

“Die EU-Erweiterung um die zehn neuen Länder hat sich auf die Schweiz noch nicht ausgewirkt”, erklärt Nordmann gegenüber swissinfo auf die Frage, ob der Schweiz durch die Erweiterung auch Schaden entstehen könnte.

Die 15 “alten” EU-Länder seien jedoch eine Erweiterung der schweizerischen Möglichkeiten und damit eine Stärkung des Wirtschaftsstandortes Schweiz.

Gerade der grenzüberschreitende Austausch sei eine Bereicherung sowie eine zusätzliche Motivation, selber besser zu werden, so Nordmann. “Und genau das müssen wir tun, wenn wir uns längerfristig international behaupten wollen.”

swissinfo, Etienne Strebel

Die Schweiz hat den Personenverkehr mit den neuen EU-Staaten geregelt:
Inländervorrang, Lohnkontrollen und Kontingente bis 2011 in Form eines Zusatzprotokolls im Personen-Freizügigkeits-Abkommen Schweiz-EU von 1999.
Darüber befindet das Schweizer Stimmvolk am 25. September an der Urne.
Gegen die Gefahr eines Lohndumpings wurden im Juni 2004 flankierende Massnahmen eingeführt.

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