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Gotthard: Ausmass der Katastrophe nur langsam sichtbar

Bundespräsident Leuenberger verschafft sich ein eigenes Bild von der Unglücksstelle. Keystone

Nach der Brand-Katastrophe im Gotthard-Tunnel sind die schwierigen Bergungs-Arbeiten angelaufen. Das Ausmass der Katastrophe wird nur langsam sichtbar. Bis Donnerstagabend wurden elf Tote geborgen, doch werden weitere Opfer befürchtet. Der Tunnel bleibt vermutlich für Monate gesperrt. Schon am ersten Tag nach der Sperrung wurden die Probleme im Transit-Schwerverkehr offensichtlich.

Bundespräsident Moritz Leuenberger reiste am Donnerstag ins Tessin, um sich selbst ein Bild der Lage zu verschaffen. In einer ersten Reaktion sprach er von einem Ort des Grauens.

Tragödie für Europa

“Man sieht die Spuren und Reste eines unglaublichen Infernos”, erklärte der Bundespräsident (und Verkehrsminister) nach einem Augenschein an der Unglücksstelle und fügte hinzu: “Es ist für mich ein Wunder, dass so viele Leute überhaupt noch überlebt haben.”

Leuenberger nannte den Unfall eine “Tragödie für ganz Europa” und bat das Ausland, die Schweiz grossräumig zu umfahren. Die schon Stunden nach dem Unfall wieder erhobene Forderung nach einer zweiten Tunnel-Röhre lehnte der Bundespräsident jedoch klar ab. Diese widerspreche dem Alpenschutzartikel in der Verfassung. Die Sicherheitsvorkehrungen im Tunnel hätten nicht versagt.

Gefahr für Rettungskräfte

Die Feuerwehr hatte den Brand am Donnerstag-Nachmittag unter Kontrolle gebracht. Bis nach Mittag hatte es an der Unglückstelle im Tunnel gebrannt. Nur allmählich gelang es den Feuerwehrleuten, zum Unfallort vorzurücken – zu stark war lange Zeit der Rauch, zu hoch die Temperatur.

Schliesslich gelang es den Rettungskräften, bis zum Brandherd vorzudringen. Dort hatten die Flammen mehr als 24 Stunden gewütet; eingestürzte Teile der Tunneldecke hatten rund 15 Fahrzeuge unter sich begraben.

Rund 300 Personen, darunter Feuerwehrleute, Rettungs-Sanitäter und Armee-Angehörige sowie 60 Fahrzeuge und 5 Helikopter standen im Einsatz.

128 Vermisste

Bis am Abend konnten elf Tote geborgen werden. Acht der Opfer wurden identifiziert. Vier stammen aus Deutschland, je eines aus Luxemburg, Italien, Frankreich und der Schweiz. Die meisten der Todesopfer waren an giftigen Brandgasen erstickt.

Wie viele weitere Menschen unter Umständen in dem Flammen-Inferno ihr Leben verloren war am Donnerstag weiterhin unklar. Auf einer Liste der Einsatz-Zentrale standen noch 128 Personen. Die Polizei bat, ihr wieder aufgetauchte Personen sofort zu melden.

In Camorino wurde ein Zentrum für die Angehörigen eingerichtet. Sie werden dort psychologisch betreut.

Sicherungs-Arbeiten wegen Einsturzgefahr

Wie viele Menschen sich unter den Trümmern im Tunnel befinden, war jedoch ebenso unklar wie der genaue Unfallhergang. Die Polizei konnte noch nicht sagen, wie viele Autos nach der Frontalkollision zweier Lastwagen mit ins Verderben gerissen wurden.

Die Feuerwehr rechnete am Abend damit, dass der Brand bis Mitternacht weitgehend gelöscht ist. Wenn alles klappt, wollen die Einsatzkräfte dann am Freitag damit anfangen, den Tunnel zu sichern. Die Tunneldecke droht auf einer Strecke von 250 Metern einzustürzen. Die Sicherheitsmassnahmen sollen ab Freitagnachmittag oder dem frühen Abend die Bergung von weiteren Leichen erlauben.

Verkehrsprobleme

Schon am ersten Tag nach der Sperrung des Gotthard-Tunnels zeigten sich die Probleme, die sich aus der Schliessung dieser Nord-Süd-Achse für den Transit-Schwerverkehr durch die Schweiz ergeben.

Nachdem sich am Donnerstagmorgen auch auf der San-Bernardino- Achse ein schwerer Unfall ereignet hatte, war das Tessin für den Schwerverkehr nur noch schwer erreichbar. Der Kanton habe beim Bund inoffiziell um Unterstützung angefragt, sagte der Tessiner Baudirektor Marco Borradori.

SBB und BLS erhöhten bereits ihre Kapazitäten am Gotthard und am Lötschberg, um einen Teil des alpenquerenden Verkehrs aufzufangen. Die SBB führten erstmals seit mehr als 20 Jahren wieder einen Autoverlad durch den Gotthard-Eisenbahntunnel durch.

Im Eiltempo sanieren sie zudem innert 10 Tagen die derzeit nur einspurig befahrbaren 4 Kilometer im 15 Kilometer langen Bahntunnel. So können 28 statt 10 bis 12 Züge pro Stunde geführt werden. Die Lötschberg-Bahn verdoppelte das Verlade-Angebot.

Zuviel Schwerverkehr

“Die Gotthard-Achse kann das Schwerverkehrsaufkommen nicht mehr ertragen”, sagte Borradori weiter. Es müsse eine Lösung gefunden werden. Er denke dabei auch an eine Limitierung des Lastwagen-Verkehrs. Bei der Verkehrspolizei wurde der Ruf nach einer Kontingentierung des Schwerverkehrs laut.

Nach Angaben der Tessiner Polizeikommandanten Romano Piazzini wird der Gotthardtunnel mit grosser Wahrscheinlichkeit erst im neuen Jahr wieder eröffnet. Dies zudem nur provisorisch und lediglich für den Personenverkehr.

Bund setzt Krisenstab ein

Um die Folgen der Brandkatastrophe im Gotthardtunnel zu evaluieren, hat der Bund einen Krisenstab einsetzt. Er wird von Hans Werder, Generalsekretär im Eidgenössischen Department für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), geleitet. Er wird insbesondere Optionen zur Umleitung des Verkehrs vorschlagen. Patentrezepte für die Zukunft waren vorerst keine in Sicht.

Mit dem Einbruch des Winters werden sich auch die Probleme für den Personenverkehr verschärfen, auch wenn die Bundesbehörden eine längere Öffnung der Alpenpässe prüfen.

Auf beträchtlichen Umwegverkehr über den Brenner machten sich Österreich und Italien gefasst. Der Mont-Blanc-Tunnel bleibt noch bis Anfang nächsten Jahres gesperrt.

swissinfo und Agenturen

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