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Reaktion der EU nicht abzuschätzen

Was geschieht nach einem "Nein" am 25. September zwischen Europa und der Schweiz? Keystone

Was geschieht, wenn das Schweizer Stimmvolk am 25. September die Ausdehnung des Freizügigkeits-Abkommens mit der EU an der Urne ablehnt?

Während die Befürworter die Konsequenzen für nicht abschätzbar halten, beschwichtigen die Gegner des Abkommens.

Wenn am 25. September die Ausdehnung des Freizügigkeitsabkommens sowie die Revision der flankierenden Massnahmen auf die zehn neuen EU-Mitgliedstaaten von den Schweizer Stimmbürgerinnen und –bürgern abgelehnt würden, befürchten viele, dass die Europäische Union (EU) dies nicht einfach so hinnehmen würde.

Die EU könne nämlich nicht auf Dauer akzeptieren, dass ein Drittstaat EU-Bürgerinnen und Bürger wegen ihrer Nationalität diskriminiere. Und es wäre eine Diskriminierung, wenn die Schweiz das Protokoll zur Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die zehn neuen EU-Staaten nicht genehmigen würde.

Die Ausdehnung des Freizügigkeitsabkommens ist mit den Bilateralen Verträgen I verknüpft. Diese sind untereinander mit einer Guillotine-Klausel verbunden. Damit können die 25 EU-Staaten alle sieben Abkommen kündigen, wenn die Schweiz ihre Abmachungen nicht einhält.

Kündigung nur einstimmig möglich

Die Personenfreizügigkeits-Befürworter sind sich bewusst, dass diese Kündigung einstimmig erfolgen müsste. Und dies würde ihrer Ansicht nach eine gewisse Zeit dauern.

Die Gegner zitieren den Chefunterhändler der Schweiz, Botschafter Michael Ambühl, der auch nicht genau vorhersagen könne, wie die EU auf ein Nein reagieren würde: “Ich vermute, dass die EU das auch nicht weiss.” Aber schliesslich wolle Österreich auch nicht den ganzen Transitverkehr Europas am Brenner.

Bern und Brüssel sind sich einig, dass es keinen “Plan B” gebe. So hat in Anbetracht der engen Wirtschaftsverflechtungen kaum jemand den Überblick, welches die Folgen einer Kündigung der Bilateralen I (Freizügigkeit, technische Handelshemmnisse, öffentliches Beschaffungswesen, Luftverkehr, Landverkehr, Landwirtschaft und Forschung) wären.

Komplizierte Umsetzung

Nicht nur für die Schweizer Wirtschaft ist es unvorstellbar, dass plötzlich der Zustand vor den Bilateralen I wieder eingeführt würde – inklusive beidseitiger Handelsschranken, der 28-Tonnen-Limite für Lastwagen und der alten Zölle auf den Landwirtschafts-Produkten.

In der EU-Zentrale Brüssel bestreitet man, die Schweiz bei einem Nein für den demokratischen Volksentscheid bestrafen zu wollen. Sicher aber wäre auch nicht mit einer Steigerung der Goodwill-Rate für die Schweiz zu rechnen.

Die Äusserungen der EU-Aussenkommissarin Benita Ferrero-Waldner nach der Abstimmung über Schengen/Dublin waren nur ein Beispiel für mögliche Probleme und politische Verknüpfungen.

Sie hatte damals angetönt, im Fall der Ablehnung der erweiterten Personenfreizügigkeit am 25. September könnten die Abkommen zu Sicherheit und Asyl nicht in Kraft treten.

Verknüpfungen und Blockierungen

Die Befürworter des Abkommens weisen zudem darauf hin, dass die bilateralen Beziehungen der Schweiz zur EU auch ohne konkrete politische Entscheide belastet sein können. Es komme nämlich vor, dass einige Dossiers einfach nicht vorankämen, bis das Grundsatzproblem gelöst sei.

Konkret weist man hin auf die derzeit offene Forschungs-Kooperation, die Umsetzung des MEDIA-Abkommens für audiovisuellen Austausch oder das Mitmachen beim europäischen Satelliten-Navigationssystem GALILEO.

Auch die Regelung für den Kohäsionsbeitrag der Schweiz an die neuen EU-Staaten ist noch nicht unter Dach. An dieser ist aber nicht nur die Schweiz interessiert, sondern auch die EU. Und deshalb lassen sich die Konsequenzen nicht abschätzen.

Bilaterale Konsequenzen

Der Verband der Maschinenindustrie (Swissmem) geht nicht davon aus, bei einem Nein am 25. September weiterhin im gleichen Ausmass vom Wachstum in Osteuropa profitieren zu können, wenn die Schweiz gleichzeitig die Bürger dieser Staaten diskriminiere.

Ganz anders sehen das die Gegner. Die Märkte seien bereits geöffnet. Per 1. Mai seien alle Handelsverträge mit der EU automatisch auf die neuen Mitgliedsstaaten ausgedehnt worden. Es gehe nur noch darum, ob die Schweiz mit den neuen EU-Staaten die freie Einwanderung vereinbaren wolle.

Nächste Erweiterung spätestens 2008

Mit einer Zustimmung der Schweizer Stimmvolkes am 25. September würde die Personenfreizügigkeit auf die 10 Staaten ausgedehnt, die der EU im Mai 2004 beitraten.

Der Beitritt von Rumänien und Bulgarien spätestens 2008 macht dann eine weitere Anpassung des Freizügigkeitsabkommens notwendig. Zudem muss sieben Jahre nach Inkrafttreten das gesamte Abkommen verlängert werden.

Die Gegner argumentieren, wenn in Zukunft einmal auch Bosnien-Herzegowina, Serbien und die Türkei zur EU gehören würden, wäre die Schweiz gezwungen, auch zu diesen Erweiterungen Ja zu sagen: “Es ist illusorisch zu glauben, dass die Schweiz nach einem ‘Ja’ am 25. September je wieder wird ‘Nein’ sagen können.”

swissinfo und Agenturen

Die 5 wichtigsten Argumente der Befürworter:
Stärkung des Wirtschaftstandorts Schweiz
Stärkung des Arbeitsmarktes, verbesserter Arbeitnehmerschutz
Gute Erfahrungen der Schweiz mit der Freizügigkeit
Schutz vor Risiken
Nein birgt Risiken (Guillotine)
——————————-
Die 5 wichtigsten Argumente der Gegner:
Mehr Arbeitslosigkeit und tiefere Löhne
Schrankenlose Einwanderung
Zusatzbelastung der Sozialwerke
Es geht nicht um Marktöffnung
Übergangsfristen bringen nichts

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