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Trübe Perspektiven für den Schweizer Finanzplatz

Wird sich der Finanzplatz Schweiz mit dem Kleingeld begnügen müssen? Ex-press

Der Schweizer Finanzplatz wird laut einer neuen Studie auf internationaler Ebene an Bedeutung verlieren. Tausende Arbeitsplätze könnten verschwinden. Aber nicht alle Regionen seien gleichermassen betroffen: Für Genf sieht es besser aus als für Zürich.

“Stagnation, Verluste, Absturz”: Solche negativen Attribute verwenden ökonomische Studien nur selten. In der Analyse des Konjunkturforschungs-Instituts BAK Basel im Auftrag des Kantons und der Stadt Zürich ist dies der Fall.

Der Schweizer Finanzplatz werde bis 2013 rund 10’000 oder 4,5% der gegenwärtig rund 240’000 Arbeitsplätze verlieren. Die globale Konjunktur, die wachsende Bedeutung der Finanzplätze in Asien und der Steuerwettbewerb seien die Hauptgründe für die schwarzen Wolken am Horizont.

Aber die Entwicklungen in den Regionen sind unterschiedlich: Der Rückgang werde Zürich (dazu gerechnet werden auch Zug und Schwyz) stärker treffen als die andern Regionen. “Der Zürcher Finanzplatz macht gemessen an der Wertschöpfung die Hälfte dieses Sektors aus. Deshalb bekommt er den Einbruch stärker zu spüren”, sagt BAK-Direktor Urs Müller.

“Die Nachfrage von Finanzdienstleistungen wird in Zukunft nicht in industrialisierten, sondern in den Schwellenländern zunehmen”, prophezeit Müller. “Der Zürcher Finanzplatz wird stark schrumpfen.

Ausserdem wird der Zugang zum amerikanischen und zum europäischen Markt zunehmend erschwert werden. Die Kosten zur Überwindung der Hindernisse wachsen stetig. Und unser Land verliert seine Steuervorteile zusehends.”

Banken leiden mehr als Versicherungen

Nicht alle Finanzbereiche werden gleichermassen betroffen sein. Die Banken dürften stärker schrumpfen als die Versicherungen und die Finanzdienstleistungen, die zusammen den Finanzsektor bilden. Laut Urs Müller wird die gesamte Branche bis 2013 rund 3% seiner Angestellten verlieren, bei den Banken allein dürften es 4% sein.

“Die Versicherungen haben ihre Aufgaben bereits gemacht und Restrukturierungen vorgenommen”, sagt Müller. “Bei den Banken trifft eher das Gegenteil zu: Sie haben viele Leute angestellt, währenddem die Produktivität bereits gesunken ist.”

Das Tessin – nach Zürich, Genf und Basel der viertgrösste Finanzplatz der Schweiz – dürfte eine ähnliche Entwicklung durchmachen: “Die Produktivität hat abgenommen, und die sich aufdrängenden Korrekturen werden zu Arbeitsplatzverlusten führen”, sagt Franco Citterio, Direktor der Tessiner Bankiervereinigung (ABT), gegenüber swissinfo.ch.

“Nach den grossen Restrukturierungen der 1990er-Jahre wird eine neue Welle hereinbrechen. Wir rechnen mit einem Arbeitsplatzabbau bei den zentralen Bankendienstleistungen und mit dem Verschwinden von rund 10 (von insgesamt 72) Bankinstituten mit 10 bis 20 Angestellten.

Steve Bernard, Direktor des Verbands “Finanzplatz Genf”, teilt die Einschätzung des BAK in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Banken und Versicherungen nicht. “Es würde bedeuten, dass die Banken die Produktivität nicht genutzt hätten. Das scheint mir ein bisschen akademisch zu sein. Die Tatsache, dass der Versicherungsbereich in Zürich weiter entwickelt ist, erklärt vielleicht diese Hypothese”.

“Der Finanzplatz Genf hat noch andere Merkmale, die ihn unterscheiden, wie die Präsenz des Rohstoffhandels, der sehr dynamisch ist”, sagt Bernard. “Ausserdem sind die Bankdienstleistungen an der ‘Front’ mit weniger ‘Back-office’ in Genf ziemlich wichtig. Diese Aktivitäten lassen sich nicht ohne weiteres automatisieren. Ausserdem wurde mir gesagt, dass die Produktivität des Personals in den grossen Banken von Genf sich problemlos mit jener Zürichs messen kann.”

Neue asiatische Märkte

Wenn die Schweizer Banken im asiatischen Raum Absatzmärkte suchen, indem sie Kundenvermögen dort verwalten, helfen sie damit nicht unbedingt dem Finanzplatz Schweiz”, sagt Urs Müller.

Franco Citterio sieht aber einen Unterschied: “Dank den Schwellenländern Brasilien, Indien und China haben unsere Banken neue Absatzmärkte gefunden. Aber die dafür notwendigen Investitionen bringen nicht alle Banken auf.”

Für den Tessiner Bankier ist das gemeinsame Ziel, die Arbeitsplätze in der Schweiz zu behalten und die Geschäfte von hier aus zu tätigen, anstatt neue Filialen zu eröffnen. “Aber es gibt Ausnahmen, vor allem in Singapur und Hong Kong, die sich stark entwickeln.”

Steve Bernard möchte nicht den Propheten spielen: “Bei unserer letzten Umfrage über die Entwicklung des Arbeitsmarkts im Bankensektor für 2012 haben einige Bankinstitute eine Reduktion des Personalbestandes angekündigt, aber wir möchten keine präzisen Zahlen angeben.”

Reihenweise arbeitslose Banker?

Werden arbeitslose Banker 2013 in den Arbeitsvermittlungs-Zentren Schlange stehen? “Die strukturellen und konjunkturellen Bedingungen der Branche – striktere Regeln und ‘Compliance’, hoher Frankenkurs, lahmer Finanzmarkt, Informatikkosten für die Verbreitung der neuen Richtlinien – drücken auf die Erträge und zwingen zu rigorosen Kosteneinsparungen mit möglichem Stellenabbau”, sagt Bernard. “Wir wissen, dass die Zahl der arbeitslosen Banker zunimmt, aber nicht stark. Es ist auch möglich, dass einige Bankangestellte anderswo eine Stelle finden.”

Sowohl in Zürich und Genf als auch in Lugano ist man sich einig, dass die Ratifizierung des Abkommens über eine Quellensteuer mit Deutschland und Grossbritannien auch Frankreich – nach den Präsidentschaftswahlen vom Mai – und Italien veranlassen könnte, ihre bisher starren Positionen zu überdenken. “Das ist die grosse Herausforderung der nächsten Monate”, sagt Bernard.

Der Finanzsektor erwirtschaftete 2010 pro Einwohner ein Bruttoeinkommen von 7752 Fr. von insgesamt 66185 Fr. der gesamten Volkswirtschaft. Der Anteil der Banken betrug 4178 Fr., jener der Versicherungen 2743 und jener der andern Finanzdienstleister 831 Franken.

Zahl der Angestellten 2010:

Finanzsektor total: 234’341

Banken: 142’246

Versicherungen: 56’943

Andere Finanzdienstleister: 35’152

Erwerbstätige total: 4,587 Mio.

Zürich

Die Region Zürich erzeugt 49% der gesamten Wertschöpfung im Finanzsektor (29,9 Mrd. Fr. von insgesamt 60,9 Mrd. Fr.) und beschäftigt 43% der Angestellten in dem Sektor (100’762).

In der letzten Klassierung der Finanzplätze durch die Z/Yen Group belegt Zürich den 8. Platz.

“Bei der gegenwärtigen Entwicklung könnten die unterschiedlichen Profile von Zürich und Genf entscheidend sein”, hält das BAK fest.

Der Bereich Vermögens-Verwaltung für amerikanische und europäische Kunden, der in Zürich dominierend ist, könnte grosse Verluste erleiden infolge des Transparenzdrucks der USA und einer strengeren Steuergesetzgebung, die von Deutschland Grossbritannien gefordert wird.”

 

Genf

Der Genfer Finanzplatz trägt 18% (10,9 Mrd. Fr.) zum Total des Finanzsektors bei und beschäftigt 19% oder 44’000 Angestellte. Er figuriert auf Position 13 im Klassement der grössten Finanzplätze der Welt.

“Wir gelten als Referenz im Private Banking und im Commoditiy trade finance (Finanzgeschäfte im Rohstoff-Handel) , sagt Steve Bernard, Direktor von “Genève Place financière”.

“Zürich hat ein umfangreicheres Finanzangebot, vor allem im Bankengeschäft, das in Genf wenig verbreitet ist, sowie im Versicherungsgeschäft.

Genf ist aber gut positioniert in seinen Spezialgebieten, um auf die wachsende asiatische Kundschaft zu reagieren.”

Übrige Schweiz

Die Region Basel ist der drittgrösste Finanzplatz der Schweiz (7% des Pro-Kopfeinkommens oder 4,1, Mrd. Fr., 15’000 Beschäftigte oder 6%), gefolgt vom Tessin (5%, 2,8 Mrd. Fr.; 12’000 Beschäftigte oder 6%)

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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