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Mehr Kompetenzen im anspruchsvollen Pflegealltag

Pflegefachfrauen übernehmen in Alterspflegeheimen grosse Verantwortung. Diese soll nun auch gesetztlich geregelt werden. (Symbolbild). Keystone

Obwohl die Pflegefachleute in Pflegeheimen grosse Verantwortung für das Wohlergehen der meist alten Patienten übernehmen, fehlen ihnen auf rechtlicher Ebene die Kompetenzen. Dies soll sich nun ändern. Ein Augenschein im Alterspflegeheim Burgdorf.

“Die Zähne brauchen Sie fürs Frühstück”, sagt Astrid Liechti, die Tagesverantwortliche in der Abteilung, geduldig zur Patientin im Bett. Die betagte Frau – nennen wir sie Frau Müller* – ist auf intensive Pflegeleistungen angewiesen. Die meiste Zeit geht ihr Blick ins Leere.

Frau Müller öffnet leicht den Mund, die Pflegerin schiebt ihr schnell die oberen Zähne hinein. “Nun noch die unteren Zähne, auch die brauchen Sie zum Essen.” Ein Lächeln huscht über Frau Müllers Gesicht. Ohne Hilfe der Pflegerin kann sie weder den Kaffee noch das Konfitürebrot einnehmen. Sie kaut es teilnahmslos.

Obwohl Frau Müller jeden Tag von den Pflegerinnen der Abteilung betreut wird, und obwohl diese ihre Bedürfnisse am besten kennen, müsste eine zusätzliche Pflegeleistung – zum Beispiel für die Behandlung einer Wunde  – von einem Arzt angeordnet werden. Das Gesetz erlaubt es den Pflegefachfrauen nämlich bisher nicht, selber Pflegeleistungen anzuordnen.

Dies soll sich nun ändern: Nationalrat Rudolf Joder verlangt in einer parlamentarischen Initiative, “dass die Verantwortung der Pflegefachpersonen gesetzlich anerkannt wird”. Es gehe nicht um eine Mengenausweitung oder darum, die Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen zu verändern, sondern “lediglich um die Abgrenzung von ärztlichen und pflegerischen Aufgaben”, schreibt der Berufsverband der Pflegefachfrauen in einer Medienmitteilung.

Immer später ins Heim eintreten

Auf der Abteilung leben 27 ältere und alte Menschen. 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind hier beschäftigt. Sie haben verschiedene Ausbildungen und arbeiten in unterschiedlichen Pensen. Velinka Mitrovic, die Leiterin der Abteilung, arbeitet seit 13 Jahren in diesem Heim und hat hier auch die Ausbildung gemacht. Rund zwei Drittel ihrer Arbeitszeit wendet sie für administrative Arbeiten auf.

“Die Menschen treten immer später ins Heim ein. Deshalb ist es auch nicht so einfach für sie, sich einzugewöhnen.” Sie kämen ins Heim, wenn sie nicht mehr allein zu Hause leben könnten. “Meistens sind dann nur noch wenige Ressourcen vorhanden, dafür benötigen sie umso mehr Pflegeleistungen”, sagt die Abteilungsleiterin.

Velinka Mitrovic schätzt ihren Beruf. “Das Schöne an meiner Arbeit ist, dass wir für den ganzen Menschen zuständig sind. Wir sind kein Spital, und wir gehen nicht davon aus, Menschen noch heilen zu können. Wir lindern ihre Beschwerden und begleiten sie auf ihrem letzten Lebensabschnitt.”

Diese Menschen hätten ihr Leben gelebt und bräuchten in den letzten Jahren Hilfe. Es ist wichtig, dass man individuell auf ihre Bedürfnisse eingeht. Man müsse auch damit umgehen können, dass Leute sterben, sagt Mitrovic. “Selbstverständlich baut man eine Beziehung zu den Bewohnerinnen auf. Man nimmt teil an deren Leben.”

Frau Müller sitzt noch vor ihrem Teller und schaut immer noch ins Leere. Die Pflegerin gibt ihr wieder ein Stückchen Brot in den Mund. Frau Müller kaut. Ihre Miene hellt sich zusehends auf, es scheint ihr zu schmecken. Neben dem Bett, im Büchergestell, steht eine Luftaufnahme von einem grossen Bauernhof. Dort hat Frau Müller ihr Leben lang gelebt und gearbeitet.

Frau Müller sei an sich körperlich gesund, jedoch dement, sagt Velinka Mitrovic. Sie verspüre zwar das Bedürfnis, essen oder trinken zu wollen, aber der Impuls gehe nicht weiter, nicht bis in die Hand.

Im Bett nebenan liegt Frau Meier*. Als sich ihr eine Pflegerin nähert, fängt  sie laut zu schreien an: “Nein! Nein!” Die Pflegerin bleibt in einiger Entfernung des Betts stehen. “Möchten Sie frühstücken?” fragt sie ruhig. “Ja”, brummt die alte Frau. Die Pflegerin kommt mit dem Tablett näher.

Als sie am Bett steht, beginnt Frau Meier, auf sie einzuschlagen. “Nicht schlagen”, sagt die Pflegende ruhig, ergreift den Arm der betagten Frau, hält ihn einen Moment lang fest, legt ihn danach sanft zurück aufs Bett und streichelt ihn.

Verantwortung übernehmen

Es sei nicht immer einfach mit den alten Leuten, sagt Astrid Liechti. Man braucht Geduld und muss psychisch und psychisch belastbar sein. “Mir gefällt es, dass ich so viel Verantwortung übernehmen kann. Man lernt immer wieder neu, auf Leute einzugehen.”

“Es ist nicht nur eine Frage der Ausbildung, ob man sich auf die Menschen einlassen kann”, sagt Velinka Mitrovic. Es gehe vor allem auch darum, viel Ruhe und  Gelassenheit mitzubringen. “Freude am Aufbau von Beziehungen und eine gute Portion Humor sind ebenfalls sehr hilfreich bei der Arbeit mit den betagten, pflegebedürftigen Menschen.”

Am 16. März 2011 hat Nationalrat Rudolf Joder (SVP) die parlamentarische Initiative “Für eine gesetzliche Anerkennung der Verantwortung der Pflege” eingereicht.

Die von 65 Ratsmitgliedern unterzeichnete Initiative verlangt, dass Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner in pfIegespezifischen Belangen eigenständig – also ohne ärztliche Anordnung – handeln und entscheiden können. Zu diesem Zweck sollen die Leistungen der Gesundheits- und Krankenpflege im Krankenversicherungsgesetz KVG in einen eigenverantwortlichen und einen mitverantwortlichen Bereich aufgeteilt werden.

Heute sei der Pflegeberuf im KVG als Hilfsberuf verankert. Für den SBK sei es höchste Zeit, dass dieser Missstand behoben werde und gut ausgebildete Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner einen Wundverband wechseln oder einen Patienten mobilisieren dürfen, ohne dafür eine ärztliche Verordnung einholen zu müssen, schreibt der Verband zu der Initiative.

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