Wilhelm Tell und das politische Plakat
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Politische Propaganda mithilfe von Plakaten hat in der Schweiz Tradition. Ein Grund liegt darin, dass unser politisches System den Gedankenaustausch und die Auseinandersetzung mit öffentlichen Themen fördert. Damit das politische Plakat möglichst viele Bürger erreicht, muss es entweder die Gefühlswelt oder die Vorstellungskraft ansprechen. Eine Aufgabe, für die sich die Gründermythen aufs Beste eignen. Kein Wunder, wurde Tell im Lauf der Geschichte immer wieder für politische Zwecke eingesetzt. Auf breiter Basis institutionalisiert wurde diese Praxis Ende des 19. Jahrhunderts, als die moderne Schweiz nach Identifikationsfiguren suchte. Dabei traten zwei Tell-Darstellungen in den Vordergrund: die Statue von Kissling und das Bild von Hodler. Tell verkörpert Freiheit, Mut und Kampf gegen die Unterdrückung. Ähnlich wie ein Logo vermittelt er eine Reihe von Bedeutungen, die jeder sofort versteht. Den Beweis liefern diese Plakate… Flüchtlingshilfe-Plakatkampagne. (swissinfo) swissinfo.ch -
Hier wird der Familienvater vom Sohn verlassen, weil dieser seinen Entscheid nicht billigt. Darstellung einer jungen Generation, die sich von der von Tell verkörperten älteren Generation löst: Tell erscheint als alternder Held mit überholten Werten. Ob Tell rechtes oder linkes Gedankengut vertritt, ob er nun tatsächlich die Schweiz und ihre Wertvorstellungen besser repräsentiert als die Schweizerfahne oder wegen seines nationalistisch geprägten Patriotismus als veraltet oder gar hinterwäldlerisch gilt: Tell ist in seiner Einmaligkeit und Vielfalt vor allem dies: ein hervorragender Kommunikationsträger. Fest verankert im kollektiven Unterbewusstsein der Schweizerinnen und Schweizer, verkörpert Tell unvergängliche Werte. Erika Stutter-Pleines, 18. Februar 1979. Oui – gardons le droit de choisir notre énergie, a l’initiative pour le contrôle démocratique du nucléaire, 1979, Offset-Druck.(snl_1979_039) -
Bereits in den 50er-Jahren war die Diskussion über Atomenergie und –waffen im Gang. Die von Atomkraftgegnern lancierte Initiative sollte gewährleisten, dass die Bevölkerung die Atomfrage in alle Zukunft selbst entscheidet. Das Stimmvolk lehnte die Initiative ab. Eine wichtige Rolle spielt sicher, dass die Tellsage in den 60er-Jahren entmystifiziert und Tell nicht mehr als historische Persönlichkeit betrachtet wurde. Allerdings ist er weiterhin Bestandteil des nationalen Vermächtnisses. Die Sagenfigur bleibt bestehen, ebenso die Werte, die sie vertritt. Vor allem aber gehört sie nach wie vor und über alle sprachlichen und kulturellen Grenzen hinweg zu den Grundlagen unserer nationalen Identität. Hugo Schuhmacher, Gegen den Atomvogt, Atom Schutz ja, Die Eidg. Atomschutz-Initiative ist auf Ihre Unterstützung angewiesen, 1979, Serigraphie. (snl_1979_074) -
Als die rechtsextremen Gruppierungen an Terrain gewinnen, kommen sich die bürgerliche Rechte und die Linke näher. 1937 kämpfen sie gemeinsam gegen die Initiative für ein Verbot der Freimaurerlogen. Die Initiative wird an der Urne verworfen. Im Bild tritt Tell nicht in Erscheinung. Im Gegensatz zum deutschen Text wendet sich die französische Fassung jedoch an "Tells Söhne", zweifellos im Zusammenhang mit der Anspielung auf die Tyrannei. Die Parallele zu Tell liegt hier im Text. Ist das Bild des Helden so stark im kollektiven Unterbewusstsein verankert, dass sich eine direkte Darstellung erübrigt? In der Tat: Das Aufkommen des Faschismus in einer Zeit, da sich Grundsätze wie Arbeitsfriede und geistige Landesverteidigung etablieren, rückt die nationale Frage in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Noël Fontanet, Fils de Tell! Debout contre la tyrannie maçonnique, "Oui", 1937, Lithographie. (snl_pol_143) -
1922 wurde das Volk an die Urne gerufen, um über die Lex Häberlin zu befinden. Mit diesem Gesetz sollten Angriffe auf die Staatsordnung bestraft und Propaganda-Aktionen jeder Art unterbunden werden. Es war die Antwort auf den Generalstreik von 1918 und die sozialen Unruhen von 1919 in Basel und Zürich. Die Linke ergriff das Referendum, worauf das Volk das Gesetz ablehnte. Tell, wiederum im Stil von Hodler dargestellt, vermittelt diesmal linkes Gedankengut. Die deutliche Abwehrhaltung gegenüber der Tyrannei, die in den Ketten der Person mit den erhobenen Händen verkörpert ist, zeigt Tell als Verteidiger der Freiheit. Erhobene Hände und ein patriotischer Tell in Frontalansicht gehören in der Regel zur Bildsprache der Rechten. In diesem Beispiel dienen sie jedoch dazu, den Gesichtspunkt der Linken darzustellen. Dieser Widerspruch löst sich bei näherer Betrachtung auf: Die Linke wollte in diesem Fall nicht etwa ihre eigene Wählerschaft überzeugen, sondern diejenigen Personen, die normalerweise für die Werte der Rechten stimmen. Carl Scherer, Défendez votre liberté! Lex Häberlin, Non, 1922, Lithographie. (snl_pol_59) -
Das Propagandaplakat der Partei der Arbeit ist ein typisches Beispiel für den sozialen Realismus, der in verschiedenen Kampagnen der linken Parteien vorherrscht. Ziel ist es, die meist prekären Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft vor Augen zu führen. Hier diente Kisslings Tell als Vorlage. Tell wird als Arbeiter dargestellt: Er trägt keine Armbrust, sondern Schaufel und Pickel. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Angestellten, oft durch hohe Hüte gekennzeichnet, verdient er seinen Lebensunterhalt mit harter Arbeit. Die Autoren bewegen sich im Bereich der Karikatur, spielen mit den Ängsten und Erwartungen der Wählerinnen und Wähler. Der Text ist leicht verständlich, das Bild spricht für sich. Alle politischen Parteien betreiben Schwarzweissmalerei, um die Gefühle ihrer Wählerschaft zu manipulieren. Anonyme, Kämpft gegen die modernen Vögte, gegen Trusts und Monopole, Für Frieden, Arbeit, Brot, für den sozialen Fortschritt, Wählt Partei der Arbeit, 1950, Lithographie. (snl_pol_595) -
1935 steckt die Schweiz mitten in der Wirtschaftskrise. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund lanciert mit der Sozialdemokratischen Partei eine Initiative zur Beschaffung von Arbeitsplätzen. Das Unternehmertum stellt sich hinter den Bundesrat und lanciert eine Nein-Kampagne, die Erfolg hat: Das Volk verwirft die Initiative. Hier werden weder Kissling noch Hodler bemüht; dass es sich dennoch um den Urner Freiheitshelden handelt, zeigen Hemd und Armbrust des Mannes im Vordergrund links. Die Rechtsparteien appellieren an den Patriotismus der Arbeiter. Mit dem Einsatz einer für linke Politik typischen Bildsprache versuchen sie die Wähler davon zu überzeugen, dass eine Ablehnung der Initiative ihren Interessen nicht schadet. Tell ist der Volksheld, wie er im Buche steht - Träger einer Gesinnung, die keiner bestimmten Partei-Ideologie eigen ist, sondern die Wertvorstellungen einer ganzen Nation darstellt. Charles L’Eplattenier, Roter Fünfjahrplan, 2. Juni, Nein, Nationaler Kampfbund, 1935, Lithographie. (snl_pol_128) swissinfo.ch -
Die einzelnen Elemente und ihre Anordnung sind zwar fast identisch mit dem Plakat zur Freimaurer-Initiative, doch wird die Metapher auf den Kopf gestellt: Der Fuss wird zur Gefahr, die Statue zur Nation. Die Botschaft ist klar: Die Schweiz und ihre Freiheit sind durch die Fronteninitiative bedroht. Tell verkörpert eindeutig demokratische Werte. Mehr noch: Er IST die Schweiz. Im Unterschied zu den ersten drei Plakaten wird hier nicht mit dem Gegensatz links - rechts gespielt. Der Freiheitsheld vertritt keine politische Richtung mehr, sondern wird als Symbol der Schweiz eingesetzt, das alle regionalen und politischen Gruppierungen miteinander verbindet. Hugo Laubi, Schütze dein Vereinsrecht! Die Demokratie ist in Gefahr, Fronten Initiative, Nein, 1937, Lithographie. (snl_pol_142) -
Ende des Ersten Weltkrieges beschliesst die Schweizer Regierung den Beitritt zum Völkerbund. Dazu muss die Schweiz den Vertrag von Versailles unterzeichnen. Die rechtsgerichteten, nationalistischen Kreise lehnen das Vorhaben ab. Das Volk stellt sich jedoch hinter die Regierung. Das Plakat zeigt einen kriegerischen, patriotischen Tell, einen Vertreter der Rechten. Die Bildsprache erinnert an Hodlers Gemälde. Tell steht dem Betrachter frontal gegenüber und scheint ihm eine Standpauke zu halten. Die Ablehnung des Beitritts wird als patriotischer Akt verstanden. Die Kleidung ist der traditionellen Bauerntracht des 13. Jahrhunderts entlehnt. Schliesslich ist Wilhelm Tell in erster Linie ein unerschrockener Bauer mit einfachen und allgemein gültigen Wertvorstellungen. Zusammen mit den Alpen und dem Rütlischwur gehört er zu den wenigen Sinnbildern, die für die ganze Schweiz gelten. Otto Baumgartner, Hütet euch vor dem Versailler Völkerbund. Comité gegen den Beitritt der Schweiz zum Versailler Völkerbund, 1920, Lithographie. (snl_pol_20) Erläuterungen von Ariane Rustichelli, Konservatorin der Plakatsammlung der Schweizerischen Landesbibliothek (Adaptation: Alexandra Richard)
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