Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Nach Prodis Sturz: “Für Neuwahlen noch zu früh”

Tumult im italienischen Senat: "Spuckattacke" von Tommaso Barbato von der UDEUR. Keystone

Nach nur 18 Monaten Regierungszeit hat Ministerpräsident Romano Prodi nach einer verlorenen Vertrauensabstimmung im italienischen Senat in Rom seinen Rücktritt eingereicht.

Claudio Micheloni, italienischer Senator mit Schweizer Wohnsitz, ist überzeugt, dass vor Neuwahlen in Italien erst das Wahlgesetz reformiert werden müsse.

Erste Konsultationen zwischen dem Staatspräsidenten Giorgio Napolitano, dem Romano Prodi sein Demissionsschreiben eingereicht hatte, und dem Parlamentspräsidenten finden diesen Freitag statt.

Napolitano hat die Mitte-Links-Regierung Prodi gebeten, zunächst im Amt zu bleiben, obwohl der Senat ihm das Vertrauen verweigert hat.

“Jetzt muss gewählt werden, wir wollen eine grosse Mehrheit im Abgeordnetenhaus und im Senat”, forderte der Oppositionsführer und frühere Regierungschef Silvio Berlusconi sofort nach Prodis Niederlage. Parlamentarier der Alleanza Nazionale (AN) liessen die Korken knallen und verteilten Champagner unter ihren Kollegen.

Neuwahlen oder Übergangsregierung mit Wahlreform?

Statt sofortiger Neuwahlen könnte der Staatspräsident aber auch eine Übergangsregierung auf den Weg bringen, die zunächst eine Wahlrechtsreform bewerkstelligt. Nicht auszuschliessen ist, dass Prodi damit beauftragt wird.

Laut der Tessiner Tageszeitung La Regione überschreite Präsident Napolitanos Spielraum aber kaum den Willen der Politiker: “Wenn Berlusconi, Fini, Casini und Bossi keine Übergangsregierung wollen, gibt es keine Alternative zu Neuwahlen.”

Auch Claudio Micheloni bemängelt gegenüber swissinfo ein mangelndes Staatsverständniss in der italienischen Politikerkaste: “Dies ist ein Grundproblem des Landes, zusammen mit der Fragmentierung der Kräfte.”

Micheloni, italienischer Senator aus Neuenburg, bedauert, dass es wegen persönlicher Interessen einiger Leute zur Krise kam. “Die Regierung sollte stürzen, bevor es zu einer Wahlgesetzreform kommt.”

“Unfähig zur Reform”

Auch in den Kommentaren mehrerer Schweizer Zeitungen wird von sofortigen Neuwahlen abgeraten.

“Prodis Untergang ist weniger eine Folge der Verschiebung der politischen Kräfte als eine neue Manifestation der tiefen politischen und moralischen Krise, in der unser südliches Nachbarland seit 15 Jahren steckt”, schreibt die Neue Zürcher Zeitung (NZZ).

Anlass des Sturzes sei auch nicht eine gegensätzliche politische Position, sondern der Sturz des Justizministers Clemente Mastella.

Dieser, Mitglied der UDEUR-Minipartei, wird der Korruption verdächtigt. Die NZZ spricht in diesem Zusammenhang von der “Schamlosigkeit, mit der Italiens politische Kaste ihre Stellung verteidigt”.

Ein “letzter würdevoller Kampf”…

…von Prodi sei es gewesen, so die Basler Zeitung (BAZ), er spiegle seine ganze Regierungszeit: Heterogene Koalitionen und hauchdünne Mehrheiten hätten ihn dazu verdammt, von Anfang an bei jedem Geschäft um jede einzelne Stimme zu kämpfen.

“Selbst Kritiker attestieren Prodi, dass es wohl keiner besser gemacht hätte”, so die BAZ.

“Ehrenhaft verloren”

Es sei ihm “nicht nur um den eigenen Machterhalt gegangen”, so der Tages-Anzeiger (TA), und “insofern hat er ehrenhaft verloren.” Es ging ihm auch um die “Reformen, die Italien so nötig hat wie kaum ein anderes mitteleuropäisches Land”.

Neuwahlen mit dem gleichen Wahlrecht durchzuführen, “wäre sinnlos, damit würde die Zersplitterung des Parteiwesens nur noch weiter vorangetrieben.”

Dass personell keine Alternativen zu Silvio Berlusconi in Sicht sind, “ist schon trostlos genug” (BAZ). Dieser hatte die Macht 2006 an Prodi verloren.

“Wird nun zu Neuwahlen geschritten, mag sich die politische Couleur ändern, aber nicht die Fähigkeit respektive die Unfähigkeit zum Regieren”, sagt Micheloni. Es sei sinnlos, das Volk wählen zu lassen, wenn ihnen keine Möglichkeit zur Auswahl geboten werde.

Micheloni spricht von einer der schwierigsten Krisen in Italien und hofft auf eine Übergangs-Lösung mit dem Auftrag, das Wahlgesetz zu reformieren. “Diese dürfte zwar den Wahlausgang gegenüber heute nicht ändern, aber eine bessere Regierungsfähigkeit ermöglichen.”

swissinfo und Agenturen, Luigi Jorio, Alexander Künzle

16. Januar: Clemente Mastella, Justizminister und Vertreter der Mini-Partei UDEUR (1,4% landesweiter Stimmen-Anteil), muss zurücktreten.

Die Justizbehörden hatten eine Untersuchung gegen seine Ehefrau, ihn und Parteifreunde eingeleitet (Korruption, Unterschlagung, Amtsmissbrauch).

Die christdemokratische UDEUR verlässt darauf das Mitte-Links-Bündnis und stürzt damit das ganze Land in einen Regierungskrise.

23. Januar: Ministerpräsident Romano Prodi erhält das Vertrauen der Parlamentskammer ausgesprochen, in der die Mitte-Links-Koalition eine Mehrheit hält.

24. Januar: Doch im Senat, wo das Kräfteverhältnis ausgeglichener ist, sprechen sich 161 gegen ihn, 156 für ihn aus.

Der Schweizer Italiener Claudio Micheloni ist seit 2006 italienischer Senator. Micheloni ist Leitungsmitglied der Democratici di sinistra (Linksdemokraten, Gruppo d’Ulivo) in der Schweiz.

Er präsidiert die Kommission “Staat – Region – Autonome Provinzen des Generalrates der Italiener im Ausland”.

Micheloni ist 1952 in Camli in den Abruzzen geboren. Seit 1960 lebt er in der Schweiz, in Neuenburg, ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Vor seinem beruflichen Engagement im sozialen und politischen Bereich war Micheloni als Zeichner und Planer in einem Bauamt tätig.

Seit 1997 ist er Präsident der Federazione Colonie Libere Italiane in der Schweiz und bis 2006 war er Generalsekretär des Forums für die Integration der Migrantinnen und Migranten.

Zudem ist Micheloni Mitglied der nationalen Direktion der Federazione Italiana Emigrazione Immigrazione (Verband Emigration und Immigration) sowie der Federazione Italiana dei Lavoratori Emigrati e Famiglie (Verband der emigrierten Arbeiter und Familien).

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft