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Libyen: Klage wegen Menschenrechtsverletzung?

Max Göldi mit Aussenministerin Micheline Calmy-Rey nach seiner Ankunft auf dem Flughafen Zürich Kloten. Keystone

Nach der Rückkehr des Schweizers Max Göldi prüft die Schweiz rechtliche Schritte gegen Libyen. Die Völker- und Europarechtsexpertin Christine Kaufmann erläutert, ob die Schweiz wegen der Verschleppung der zwei Schweizer Bürger Klage einreichen kann.

Libyen auf dem Rechtsweg wegen Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen, diese Idee hat die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey kürzlich in die öffentliche Diskussion eingebracht.

Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg könne die Schweiz in dieser Sache nicht anrufen, da Libyen die Europäische Menschenrechtskonvention nicht ratifiziert habe, sagt die Völkerrechts- und Europarechtsexpertin Christine Kaufmann, Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht, Völker- und Europarecht an der Uni Zürich

An die Afrikanische Kommission für Menschenrechte können nur Einzelpersonen und Nichtregierungsorganisationen, nicht aber Staaten gelangen.

Das wäre theoretisch eine Möglichkeit für die beiden zurückgekehrten Schweizer Geiseln Max Göldi und Rachid Hamdani, weil Libyen die Afrikanische Menschenrechtscharta unterzeichnet hat.

“Der Schweiz bleibt der Weg, die Menschenrechtsverletzungen vor der Uno zu thematisieren”, sagt Christine Kaufmann.

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH), eine weitere Option, könne nur dann tätig werden, wenn Libyen dem zustimme. “In vielen Bereichen akzeptiert Libyen keine internationale Gerichtsbarkeit.”

Libyen habe allerdings das Uno-Abkommen über Geiselnahmen unterzeichnet. Gestützt auf dieses Abkommen könnte der IGH zuständig sein, doch: “Die Rechtslage ist kompliziert. Die Schweiz müsste unter anderem beweisen, dass die beiden Schweizer festgehalten wurden, um die Schweiz zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen. Das wäre sehr schwierig.

Auch muss sich die Schweiz fragen, was der Nutzen eines solchen Verfahrens wäre”, sagt die Völkerrechtlerin.

Schwierig, Nötigung zu belegen

Dass der Aktionsplan, den die Schweiz im Gegenzug zur Freilassung von Max Göldi unterzeichnet hat, wegen Nötigung ungültig erklärt werden könne, bezweifelt die Völkerrechtsexpertin: “Es ist sehr schwierig zu beurteilen, wie der Aktionsplan genau zu Stande gekommen ist. Es braucht extrem viel, dass ein Vertrag wegen Nötigung nicht zu Stande kommt.”

Man müsste beweisen können, dass Libyen die Beiden gefangen genommen habe, um die Vertragsunterzeichnung zu erzwingen. Dazu lägen jedoch heute nicht genug Fakten vor.

Auch der Zusammenhang zwischen dem Nicht-Ausreisenlassen der beiden Schweizer und der Verhaftung von Hannibal Gaddafi sei problematisch, wenn nicht unmöglich zu belegen.

Libyen bestreitet seit Beginn der Affäre, dass ein Zusammenhang bestehe. Libyen hat den beiden vorgeworfen, sie hätten die Visa-Vorschriften verletzt.

Visaverstösse

Für Christine Kaufmann ist es aus libyscher Sicht durchaus denkbar, dass die beiden gegen Visavorschriften verstossen hätten. “Libyen hat komplizierte, intransparente Visavorschriften, die teilweise nicht einmal den Libyern selbst im Detail bekannt sind; das erschwert deren Einhaltung.”

Selbst wenn die Visavorschriften verletzt wurden, rechtfertige das die Verschleppung der beiden Schweizer aber nicht.

Vor die Uno-Gremien

“Es gibt zwei Möglichkeiten, wie man dieses Thema in der Uno auf die Agenda bringen kann, im Uno-Menschenrechtsrat und im Uno-Menschenrechtssausschuss”, sagt Kaufmann.

Im Menschenrechtsrat sitzen Vertreter einzelner Staaten. Jedes Land, das Mitglied der Uno ist, kann vom Menschenrechtsrat begutachtet werden, unabhängig davon, welche menschenrechtlichen Abkommen es unterzeichnet hat.

Der Menschenrechts-Ausschuss hingegen ist ein Fachgremium, das sich direkt auf einen Menschenrechtsvertrag, den Uno-Pakt über bürgerliche und politische Rechte, den sogenannten Uno-Pakt II, stützt.

Dieser Ausschuss ist von Experten besetzt, die nicht ihren Staat vertreten, sondern ausgewiesene Kapazitäten im Menschenrechtsbereich sind.

Im Menschenrechts-Ausschuss beschränkt man sich bei der Untersuchung auf die Staaten, die den Uno-Pakt II ratifiziert haben. “Libyen ist eingebunden in diese rechtlichen Verpflichtungen”, sagt die Expertin.

Beide Gremien seien allerdings keine Gerichte, die Strafen verhängen könnten. “Es geht generell darum, einen Dialog zu führen. Man versucht im Gespräch auf Schwierigkeiten hinzuweisen und im Idealfall den Staat dazu zu bringen, die Menschenrechtssituation zu bereinigen.”

In beiden Gremien gebe es am Schluss Berichte mit Empfehlungen, in denen der Staat aufgefordert werde, Korrekturmassnahmen zu treffen. “Später muss der Staat Rechenschaft darüber ablegen, ob er wirklich etwas getan hat. Es ist also nicht so, dass die Berichte einfach im Sand verlaufen. Aber durchsetzbare Gerichtsurteile sind sie nicht.”

An der Verschleppung der beiden Schweizer ändere die Thematisierung in einem der beiden Gremien natürlich nichts, aber für die Zukunft könne sie von Bedeutung sein, denn “die beiden Schweizer sind keine Einzelfälle.”

Am 23. Juni 2010 habe Amnesty International einen Bericht veröffentlicht, der belege, dass es in Libyen immer wieder zu willkürlichen Verhaftungen von Menschen, auch libyschen Bürgern, kommt. “Diesen Personen könnte eine Thematisierung in der Uno helfen.”

Im November stehe für Libyen die periodische Berichterstattung im Menschenrechtsrat an. “Libyen wird damit zum Thema in den Uno-Gremien, egal, ob die Schweiz aktiv wird oder nicht.”

Internationales Schiedsgericht

“Schiedsgerichte können im Völkerrecht immer eingesetzt werden, wenn es um einen Konflikt zwischen Staaten geht. Mit der Uno hat dies nichts zu tun”, erklärt die Rechtsexpertin.

Theoretisch hätte man nicht nur ein Schiedsgericht zur Verhaftung von Hannibal Gaddafi in Genf einsetzen können, sondern auch eines zu den Menschenrechtsverletzungen an den Schwiezer Bürgern Göldi und Hamdani.

“Dem hätte allerdings Libyen zustimmen müssen”, sagt Christine Kaufmann und fügt an: “Ein Schiedsgericht setzt immer die Zustimmung der beiden Parteien voraus, man darf es sich nicht wie ein innerstaatliches Gericht vorstellen.”

Göldi und Hamdani hätten die Möglichkeit, von sich aus an die Uno zu gelangen, an den Menschenrechtsausschuss. “Sie müssten allerdings zuerst in Libyen selbst gegen Libyen vorgehen, da der Menschenrechtsausschuss dies verlangt.” Dass der Ausschuss in diesem Fall eine Ausnahme von dieser Bestimmung machen würde, wäre ihrer Meinung nach denkbar.

“Auch Nichtregierungsorganisationen könnten diesen Schritt für die beiden übernehmen. Amnesty International oder Human Rights Watch könnten beispielsweise einen so genannten Schattenbericht zu Handen des Menschenrechtsausschusses der Uno erstellen”, sagt Kaufmann.

Fälle dieser Art kämen vor, und sie erwarte, dass Amnesty International (AI) dies nun tun werde. Denn AI habe in dieser Sache sehr viele Detailinformationen.

Es habe auch schon Einzelpersonen gegeben, die gegen Libyen in der Uno vorgegangen seien. “Der Menschenrechtsausschuss hat in verschiedenen Fällen auch Vertragsverletzungen festgestellt.”

Eveline Kobler, swissinfo.ch

Die beiden Schweizer Max Göldi und Rachid Hamdani waren vor fast 2 Jahren in Libyen festgehalten worden, nachdem in der Schweizer Presse Fotos der Verhaftung des Gaddafi-Sohnes Hannibal in Genf veröffentlicht worden waren.

Der Tunesien-Schweizer Hamdani wurde Ende Februar 2010 freigelassen.

Göldi konnte nach fast 700 Tagen, in denen er in Libyen festsass, das Land Mitte Juni 2010 verlassen.

“Ich habe die vergangenen 23 Monate in grosser Unsicherheit und Angst verbracht. Ich wurde Opfer eines Konflikts, der mit mir nichts zu tun hat”, sagte er nach seiner Ankunft in der Schweiz

Die Verbringung von Landsmann Rachid Hamdani und ihm an einen unbekannten Ort durch libysche Behörden nach einem vorgetäuschten Spitalbesuch bezeichnete Göldi als Entführung.

Er habe 53 Tage in einem verdunkelten Zimmer in vollkommener Isolation verbracht, betonte er. Die Bewacher hätten sich korrekt, aber distanziert verhalten und keinen Kontakt gewünscht.

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) verlangt, dass die Schweiz bei der Uno auf eien Verurteilung Libyens wegen Geiselnahme hinwirkt.

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