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Nur wenige Stimmen retten Berlusconi

Die Regierung Berlusconi kann den Misstrauensantrag knapp abwehren. Keystone

Nur dank drei Stimmen konnte am Dienstag der angeschlagene italienische Regierungschef Silvio Berlusconi einen Misstrauensantrag der Opposition in der Abgeordnetenkammer abwehren. swissinfo.ch befragte italienische Abgeordnete mit Schweizer Wohnsitz.

Die Nacht auf den Dienstag wird als eine der längsten der zweiten italienischen Republik (seit 1994) eingehen, eine Art Römer “Nacht der langen Messer”: Appelle an die Verantwortung, in Kombination mit allerlei Ausmarchungen.

Im Senat sprachen sich 162 für und 135 gegen den 74-jährigen Regierungschef aus, bei 11 Enthaltungen, was allgemein erwartet worden war. Doch im Abgeordnetenhaus (Unterhaus am Montecitorio) fiel der Ausgang knapp aus: 314 Abgeordnete sprachen sich für Berlusconi aus, 311 gegen ihn, bei nur zwei Enthaltungen.

Seit dem Bruch mit seinem früheren langjährigen Bündnispartner Gianfranco Fini Ende Juli hat Berlusconi keine Mehrheit mehr. Dennoch hatte er bereits im September eine Vertrauensabstimmung gewonnen.

Der gescheiterte Misstrauensantrag ist nun für Fini eine Niederlage. Offenbar haben mehrere Abgeordneten von Finis “Futuro e Libertà” (FLI) dennoch für Berlusconi gestimmt, obschon es ihr Chef, Fini, war, der Berlusconi wiederholt zum Rücktritt aufgefordert hatte, um den Weg für eine neue Mitte-Rechts-Regierung freizumachen.

Während den Abstimmungen im Parlament kam es in der Umgebung zu schweren Auseinandersetzungen zwischen demonstrierenden Berlusconi-Gegnern und der Polizei. Zu Protesten kam es auch in verschiedenen Städten.

Frustrierte Linksparteien

Unter den Linksparteien ist die Frustrationen spürbar: “Wir sind enttäuscht und besorgt, weil die Unsicherheit jetzt bestehen bleibt”, sagt der Abgeordnete und Schweizer Auslanditaliener Franco Narducci (Partito Democratico) gegenüber swissinfo.ch. Narducci ist einer der drei italienischen Parlamentarier mit Wohnsitz in der Schweiz. “Wie wird Berlusconi nun die Probleme Italiens mit so einer dünnen Mehrheit angehen können?”

Dasselbe frägt sich auch Claudio Micheloni, auch er Abgeordneter des Partito Democratico, und wie Narducci in der Schweiz gewählt: “Berlusconi ist ein Mann mit uneingeschränkten Ressourcen. Bis er nicht selber entscheidet, sich zurückzuziehen, oder bei einem Volksentscheid unterliegt, würde ich ihn nicht für politisch tot erklären.”

Was hingegen sicher sei, so Micheloni, sei das Ende der gegenwärtigen Regierung im Amt. Diese sei nicht imstande, dem Land neue Perspektiven zu geben.

Italien steht still

Vom Ausgang dieses Misstrauensvotums sei nicht nur die Zukunft des Cavaliere abhängig gewesen, sondern auch jene des gesamten Landes: “In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Regierung eigentlich in erster Linie um die persönlichen Probleme Berlusconis gekümmert, wie seine Probleme mit der Justiz oder Interessenskonflikte”, sagt Narducci.

“Die Situation ist dramatisch. Das Land steht still, und ist zum Gespött von ganz Europa geworden. Niemand nimmt Italien noch für voll.”

Die Aufgabe der laufenden Regierung wird nicht einfach sein. Das Land ist der vielen nicht eingehaltenen Versprechen müde. Konkrete Antworten bezüglich der Euro-Finanzkrise, der Jugendarbeitslosigkeit, der Nord-Süd-Problematik und des Schulwesens stehen an. Micheloni meint auch, Italien brauche in erster Linie “eine Rekonstruktion des Zugehörigkeitsgefühls zum Land”.

Antipolitik statt Fussball

“Italien ist unter Berlusconi zu einem Land geworden, dessen Kapazitäten unter die kritische Grenzen gefallen sind, und in dem der Fussball von der Antipolitik als Nationalsport abgelöst worden ist.”

Und wenn eine Nation einmal auf so ein Niveau gefallen sei, so Micheloni, sei auch die Demokratie an sich in Gefahr. “Das werfe ich dem Regierungschef vor. Weniger seine Wirtschaftspolitik, die ich wegen Meinungsverschiedenheiten ablehne. Es geht nicht um einzelne Aktionen.” Es gehe um den Umstand, dass Berlusconi das Land ‘destrukturiert’ habe.

Nicht nur die Linke übt Kritik

Kritik an Berlusconi kommt nicht nur aus den Reihen der Opposition. Nach der Abspaltung seines historischen Verbündeten, Gianfranco Fini, haben sich auch einige Mitte-Rechts-Parlamentarier skeptisch über die gegenwärtige Regierung geäussert.

Zum Beispiel Aldo Di Biago, der von der Italienern in Kroatien ins Parlament gewählt worden ist – wie Micheloni von den Schweizer Italienern. Di Biago war früher Verantwortlicher des internationalen Teils der Berlusconi-Partei Popolo della Libertà, wechselte aber zu Finis Futuro e Libertà.

Man könne gewisse positive Beiträge der laufenden Regierung nicht ignorieren, sagt Di Biago, wie das schnelle Eingreifen beim Erdbeben in den Abruzzen, oder die Fortschritte im Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Doch sei das gleichzeitig als Minimum der Bilanz einer Regierung anzusehen, das sie als demokratisch gewählte Instanz ihrer Zivilgesellschaft schuldig sei.

Auch Di Biagio kritisiert, dass die Prioritäten der Regierung den persönlichen Problemen des Premierministers gewidmet war, statt Reformen in den Strukturen: Justizreform, Steuerwesen, Arbeitsmarkt und Familienpolitik seien zu kurz gekommen.

Mitverantwortung der Linken

Dass Berlusconi während 16 langen Jahren Italiens Politik derart dominieren konnte, ist nicht nur seinem Charisma, seinen Initiativen und seiner Medienmacht zuzuschreiben. Ein Teil seines Erfolgs hängt mit dem Unvermögen der Opposition zusammen, die sich oft hinter einem gemeinsamen Anti-Berlusconi-Slogan stritt und unglaubwürdig blieb.

“Die wirkliche Stärke von Berlusconi ist heute die Absenz einer glaubwürdigen Alternative von links”, sagt Micheloni.

Drei Schweizer Auslanditaliener sind im italienischen Parlament vertreten.

Franco Narducci (Abgeordneter) und Claudio Micheloni (Senator) sind beide vom oppositionellen “Partito Democratico”.

Der dritte Parlamentarier, Antonio Razzi aus dem Kanton Luzern, ist 2006 in die “Italia dei Valori” (Berlusconi-Opposition) gewählt worden.

Am 9. Dezember, kurz vor dem Misstrauensvotum, ist Razzi aus der “Italia dei Valori” aus- und in die Parlamentariergruppe “Noi Sud” eingetreten. Diese Gruppe gehört zur Regierungs-Koalition Berlusconi.

Seit 2002 haben Auslanditaliener die Möglichkeit, in Italien für ein Mandat im Parlament zu kandidieren.

Im Abgeordnetenhaus sind 12 von 630 Sitzen und im Senat 6 von 315 Sitzen für Auslanditaliener reserviert. 

Seit 1947 ist Italien eine parlamentarische Republik. Das Land umfasst 20 Regionen.

Das Parlament setzt sich zusammen aus einer Abgeordneten-Kammer mit 630 Abgeordneten, die für fünf Jahre gewählt sind,

und dem Senat (315 Senatoren, ebenfalls 5 Jahre).

Der Präsident der Republik ist für 7 Jahre gewählt, vom Parlament und von 58 regionalen Delegierten (Zur Zeit: Giorgio Napolitano).

Der Präsident nominiert den Premierminister, die wichtigste Figur in der italienischen Politik (Regierungschef).

Die Regierung hängt von den beiden Kammern ab. Sie kann Gesetzesdekrete erlassen, die aber vom Parlament innerhalb 60 Tagen gutgeheissen werden müssen.

Am 14. Dezember, nach einigen Monaten Politkrise, hat Silvio Berlusconi als Regierungschef einen Misstrauensantrag knapp abwenden können.

Die Italiener sind die grösste Ausländer-Gemeinde in der Schweiz. Über eine halbe Million Person sind italienische Staats- oder Doppelbürger.

In Italien wiederum befindet sich die viertgrösste Kolonie von Schweizern im Ausland, nach Frankreich, Deutschland und den USA.

Ende 2009 waren 48’640 Auslandschweizer in Italien registriert.

Zwei Drittel davon leben im Norden.

Mit einem Aussenhandels-Anteil von 9,5% ist Italien nach Deutschland der zweitgrösste Handelspartner der Schweiz.

Das Volumen beläuft sich auf rund 40 Mrd. Franken jährlich.

Aus Italien stammen 11% der Importe, nach Italien gehen 9% der Exporte.

Die Schweiz ist der sechstgrösste Investor in Italien (27 Mrd. Fr. 2008). Schweizer Unternehmen beschäftigen in Italien rund 78’000 Personen.

Die Investitionen Italiens in der Schweiz betragen 6 Mrd. Franken. Damit verbunden sind rund 13’000 Arbeitsplätze.

Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle

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