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Wenn der Europarat nicht abspeckt, geht er unter

Paul-Henri Spaak spricht an der ETH Zürich über "Das Neue Europa", 1949. Spaak ist Präsident der ersten Beratenden Versammlung des Europarates in Strassburg; RDB

Der Europarat, die älteste politische Organisation Europas, steht zunehmend im Schatten der EU. Will er überleben, müsse er sich auf sein Kerngeschäft - den Schutz der Menschenrechte - konzentrieren, sagt Europarechts-Experte Stephan Breitenmoser.

Der grösste Erfolg in der 60-jährigen Geschichte des Europarates ist zweifellos die Verabschiedung der Europäischen Menschenrechts-Konvention (EMRK) 1950. “Sie war die erste international bindende Konvention mit einem umfassenden Katalog zum Schutz der Menschenrechte weltweit”, sagt Stephan Breitenmoser, Professor für Europarecht an der Universität Basel gegenüber swissinf.ch. Die Urteile des Menschenrechts-Gerichtshofes des Europarats hätten für andere Regionen und internationale Organisationen wie die EU und die UNO neue Massstäbe gesetzt.

Später kam die Justiz-Kooperation (Rechtshilfe, Auslieferungsrecht) hinzu. Auch diese Entwicklungen hatten laut Breitenmoser weltweit Modellcharakter und bilden noch heute die Grundlage für den in der EU sich rasch entwickelnden europäischen Rechtsraum.

Einen grossen Beitrag leistete der Europarat nach Abbruch des Eisernen Vorhangs beim Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen in den ehemaligen Sowjetstaaten. Eine Vorbereitung und Hinführung an die Europäische Union heran, eine Art Trainingslager, so der Experte.

Seit Ende der 1950er-Jahre bekommt der Europarat zunehmend Konkurrenz durch die heutige EU (damals EWG und EG), welche stetig an Bedeutung gewinnt und sich, wie auch die Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), ebenfalls verstärkt um die Einhaltung der Menschenrechte kümmert.

Reformen sind dringend nötig

Obwohl die Existenz des Europarats deshalb seit Jahren immer wieder in Frage gestellt wird und er an Bedeutung eingebüsst hat, brauche es ihn immer noch, sagt Stephan Breitenmoser. Für Mitgliedstaaten, die der EU nicht beitreten könnten (Russland, Türkei) oder wollten (Schweiz), sei er eine Art Auffangbecken.

Allerdings, so die Kritik des Experten, sei der Europarat heute in vielen kulturellen, politischen und sozialen Bereichen tätig. Statt sich zu verzetteln, solle er sich vielmehr auf seine Kernbereiche, so den Schutz der Menschenrechte und die Justiz-Kooperation beschränken und die anderen Gebiete der EU überlassen.

Breitenmoser nimmt kein Blatt vor den Mund: Im Rat werde zu viel warme Luft produziert. Diese Ressourcen fehlten dann für die Kernbereiche. “Der Europarat muss endlich abspecken und einfachere Strukturen schaffen, bevor er auch in seinen Kernbereichen von der EU marginalisiert wird.”

Gerichtshof am Limit

Die Europäische Union hat sehr viel mehr finanzielle Mittel und Personal zur Verfügung sowie effizientere, bundesstaatsähnliche Strukturen, im Gegensatz zum Europarat, der als traditionelle völkerrechtliche Organisation schwerfällige diplomatische Wege gehen muss. So ist das Budget des gesamten Europarates laut Breitenmoser etwa gleich gross wie jenes der neugeschaffenen Menschenrechts-Agentur in Wien.

Ein weiteres grosses Problem sieht der Europarechtler beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser sei heillos überlastet und könne die Beschwerdeflut nicht mehr bewältigen. Und, was nicht sein dürfte: Er sei organisations- und personalrechtlich dem Europarat unterstellt. “Als unabhängiger Gerichtshof sollte er sich selber organisieren können und mehr Mittel zur Verfügung haben.”

Breitenmoser hofft denn auch, dass die Ministerkonferenz, die während des halbjährigen Schweizer Europarats-Vorsitzes im Februar in Interlaken stattfindet, Verbesserungen bringt zur Stärkung des Gerichtshofes.

Aktive Schweiz

Für die Schweiz ist die Mitgliedschaft im Europarat von grosser Bedeutung – gerade weil sie nicht der EU angehört. So kann sie im Rahmen der europäischen Integration und etwa bei der Justiz-Kooperation mitwirken.

Breitenmoser ist überzeugt, dass die Schweiz ohne das im Europarat erlangte Know-how die sehr schwierige Assoziierung mit Schengen nicht hätte erreichen können. Die Justiz- und Polizei-Kooperation entwickle sich rasch weiter, eine wirksame Terrorismus-Bekämpfung erfordere aber neue Instrumente des Rechtsschutzes. Hier könne die Schweiz Einfluss nehmen und aktiv mitwirken.

Beeindruckt ist der Rechtsexperte aus Basel, vom “guten Ruf und grossen Gewicht der Milizparlamentarier aus der Schweiz im Europarat”. So hat etwa Dick Marty, FDP-Ständerat aus dem Tessin und eines der Schweizer Zugpferde in Strassburg, “kritische Berichte zur illegalen Geiselnahme der USA bei der internationalen Bekämpfung des Terrorismus verfasst und dabei vor Verletzungen grundlegender Menschenrechte gewarnt.

Insofern kann der Europarat sehr wohl als moralisches Gewissen Europas verstanden werden, wie der Rat in Strassburg schon von Konrad Adenauer, dem ersten deutschen Bundeskanzler bezeichnet worden war.

Gaby Ochsenbein, swissinfo.ch

Die Schweiz wird vom 18. 11. 2009 bis 11. 5. 2010 den Vorsitz im Ministerkomitee, dem Exekutivorgan des Europarates, innehaben.

Sie trat dem Europarat am 6. Mai 1963 als 17. Mitgliedstaat bei.

Seit 1968 verfügt sie über eine ständige Vertretung in Strassburg. Gegenwärtiger Botschafter ist Paul Widmer.

Die Schweiz bezahlt pro Jahr 2,1750% des Budgets des Europarats, das sind 6,2 Mio. Euro.

Die Schweizer Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats besteht aus 12 National- und Ständeräten.

Schweizer Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist Giorgio Malinverni.

Er wurde 1949 von 10 westeuropäischen Ländern (Belgien, Dänemark, Frankreich, Grossbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Norwegen, Schweden, Niederlande) als zwischenstaatliche Organisation zum Schutz der Menschenrechte gegründet.

Mit den Jahren entstand ein europäischer Rechtsraum, eine paneuropäische Plattform.

Der ständige Sitz ist in Strassburg, Frankreich. Der Palais de l’Europe wurde 1977 eingeweiht.

Heute zählt der Rat über 636 Abgeordnete aus 47 Mitgliedstaaten mit insgesamt 800 Millionen Menschen. Dazu kommen rund 2000 administrative Mitarbeiter. Alle europäischen Staaten sind dabei, ausser der Vatikan, Weissrussland und Kosovo. Hinzu kommen fünf Beobachterstaaten (Vatikan, USA, Kanada, Japan, Mexiko).

1950 wurde die Europäische Menschenrechts-Konvention verabschiedet, die seither durch 14 Zusatzprotokolle ergänzt wurde.

Der Europäische Menschenrechts-Gerichtshof soll sicherstellen, dass die Menschrechte in den Mitgliedstaaten eingehalten werden.

Der Europarat hat bislang rund 200 Konventionen verabschiedet, so etwa zur Verbesserung der internationalen Rechtshilfe, zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens, der Abschaffung der Todesstrafe, des Menschenhandels oder der Folter.

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