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Rote Köpfe wegen kalten Betten im Val d’Anniviers

In der Hochsaison ist in St-Luc kaum ein Zimmer frei. Aber viele Betten bleiben kalt. swissinfo.ch

Selten hat im Wallis eine Volksinitiative so zu reden gegeben, wie jene gegen den Bau von Zweitwohnungen, ganz besonders im Val d'Anniviers. Die Initiative bedrohe die Existenz der Talschaft, warnt der Gemeinderat in corpore. Ein Augenschein.

“Eine Dummheit sondergleichen”, wettert Maurice Epiney hinter dem Steuer des Postautos, das gut zwei Dutzend Reisende von Sierre hinauf in die alpinen Dörfer des Val d’Anniviers bringt: Touristen mit Rucksäcken, Schneeschuhen und Skiern, Einheimische mit vollen Einkaufstaschen, ein paar Ausländer, die an ihren Arbeitsplatz in den Tourismusorten fahren.

Die Initiative des Umweltschützers Franz Weber beschert dem Chauffeur und seinem Passagier rechts auf dem vordersten Sitz Gesprächsstoff für die ganze Fahrt.

Wenn sie angenommen werde, könne er sein Maiensäss nicht einmal dem eigenen Sohn übergeben, weil dieser ausserhalb des Kantons wohne, klagt Maurice Epiney und schildert gleich noch ein weiteres düsteres Szenario: “Die Schreinerei meines Schwagers wird eingehen, und seine Angestellten, die alle hier wohnen, werden ausserhalb des Tals eine Arbeit suchen müssen.”

Die Befürchtungen des Chauffeurs sind nicht unbegründet. Mit der Volksinitiative “Schluss mit dem uferlosen Bau von Zweitwohnungen” kommt am 11. März ein Anliegen zur Abstimmung, das den Anteil von Zweitwohnungen einer Gemeinde auf 20 Prozent begrenzen will.

In der Gemeinde Anniviers liegt dieser Anteil bei 70 Prozent. Die bekanntesten Ferienorte des Tals, St-Luc und Grimentz, halten mit Werten von über 80 Prozent sogar den Schweizer Rekord.

Geschlossene Fensterläden

Zu Maurice Epineys Passagieren gehören an dem sonnigen aber kalten Februartag auch Monika Verster und Aschi Meier aus Zürich. Sie verlassen das Postauto in “St-Luc, Chemin des Caïds”, wo sie für eine Ferienwoche eines der “08/15-Chalets” gemietet haben, wie sie sagen.

Gemeint sind jene zahlreichen Holzhäuser, die fast bezugsbereit aus dem Unterland angeliefert und in wenigen Tagen montiert worden sind. Webers Initiative werde er zustimmen, obwohl sie Angebote treffe, von denen er jetzt auch profitiert habe, sagt Aschi Meier. “Es geht mir darum zu verhindern, dass die Landschaft noch mehr zersiedelt wird.”

Irène Spalt und Timucin Demir sind mit ihren Kindern Korei und Nico von Grimentz über Chandolin nach St. Luc gewandert, “an so vielen Häusern mit geschlossenen Fensterläden vorbei”. Das sei “absurd”, kommentieren sie.

Dass auch in der Hochsaison, während der man im Tal kaum eine Unterkunft findet, zahlreiche Betten im Dorf “kalt” bleiben, bestätigt auch Anne Mathieu. Sie wohnt seit 20 Jahren in einer von neun Wohnungen eines Mehrfamilienhauses. “Sehr oft ganz allein”, sagt sie.

Ihre Nachbarn sind lauter Zweitwohnungs-Besitzer, die ihren ständigen Wohnsitz ausserhalb des Kantons oder im Ausland haben und jeweils nur während ein paar Wochen in St. Luc auftauchen.

Gemeinderat empfiehlt ein “Nein”

“Wenn die Initiative ‘Franz Weber’ angenommen wird, wird Anniviers während Jahrzehnten keine Zweitwohnungen mehr bauen”, hatte die Gemeinde den Einwohnern kürzlich mitgeteilt. Die Initiative gefährde die Arbeitsplätze in der Wirtschaft, speziell im Bau, im Handel und bei den Sportbahnen, steht in dem Schreiben, hinter dem der gesamte 9-köpfige Gemeinderat steht.

Kathy Berset Soliot teilt diese Meinung: “Es wäre eine mittlere Katastrophe für uns”, sagt die Geschäftsleiterin und Teilhaberin der Immobilien-Agentur Afim. Die 3,5-Zimmer-Wohnungen, die Afim in St. Luc derzeit zum Kauf anbietet, kosten zwischen 470’000 und knapp 600’000 Franken. Für 5,5-Zimmer-Maisonnette-Wohnungen liegen die Preise zwischen 620’000 und 1 Million Franken. Die Nachfrage nach Zweitwohnungen sei ungebrochen, sagt die Immobilienmaklerin.

“Ich gebe zu, dass wir in den letzten Jahren ein bisschen zu weit gegangen sind. Es braucht einige Massnahmen, damit die Besitzer ihre Wohnungen häufiger vermieten. Aber nicht so radikale wie es die Initiative verlangt.”

Am letzten Tag ein Chalet gekauft

Die extreme Seite der Initiative störe ihn auch, aber sie basiere auf einem echten Problem, sagt Claude Buchs-Favre, Eigentümer des 1859 erbauten Hotels Bella Tola. Umzingelt von modernen Chalets wirkt das historische Gebäude aus den Anfängen der Belle Epoque heute fast exotisch.

Die Konkurrenz der Zweitwohnungen sei einseitig, gibt der Hotelier zu bedenken: “Die drei Immobilien-Agenturen von St. Luc dürften froh sein, dass wir das Hotel vor 15 Jahren wieder eröffnet haben und damit neue Kunden anlockten.”

Viele seiner ehemaligen Gäste besitzen nämlich heute Zweitwohnungen im Tal. “Früher verbrachten die Leute ihre Ferien fünf, sechs oder sieben Mal im Hotel. Heute kommen Gäste zum ersten Mal in unser Hotel, und am letzten Ferientag unterschreiben sie den Kaufvertrag für ein Chalet.”

Das Bella Tola habe zum Glück aber auch eine treue Stammkundschaft, betont der Hotelier. Fast ein Drittel der rund 90 Gäste sind derzeit Kinder. “Viele Familien treffen sich jedes Jahr bei uns, und einige sind inzwischen untereinander und auch mit uns befreundet.”

Anniviers verspricht Besserung

Dass nicht nur die Landschaft, sondern auch die Hotellerie unter dem Zweitwohnungsboom leidet, ist in allen Alpenkantonen ein Thema. Die Gemeinde Anniviers verspricht zwar Massnahmen zur Unterstützung des Hotelgewerbes, will den Bau weiterer Zweitwohnungen im Tal aber nicht stoppen, sondern nur reduzieren.

“Auf mindestens die Hälfte der Anzahl Bauten pro Jahr im Durchschnitt des letzten Jahrzehnts”, sagt Gemeindepräsident und alt Ständerat Simon Epiney gegenüber swissinfo.ch.

Unabhängig von Webers Initiative habe die Gemeinde zudem ein Verbot von Zweitwohnungen im Kern der Dörfer geplant. Vorgesehen seien auch Massnahmen zur Förderung der Erstwohnungen.

“Eine deutliche Mehrheit der Talschaft verlangt heute, dass der Bau von Zweitwohnungen reduziert wird”, bestätigt der Rechtsanwalt und Notar. In den letzten Jahren seien im Tal auch Promotoren am Werk gewesen, die in wenigen Jahren zahlreiche Chalets aus Ost-Ländern hergebracht und aufgestellt hätten.

Auch gegen diese Entwicklung habe die Gemeinde Massnahmen geplant. Aber Webers Initiative sei keine Lösung, sondern eine Bedrohung für das Tal, das fast ausschliesslich vom Tourismus und insbesondere auch vom Zweitwohnungsbau lebe. Besser wäre eine Initiative, die dazu verpflichte, Zweitwohnungen besser auszulasten, meint Simon Epiney.

Das Val d’Anniviers (Eifischtal) ist das östlichste Seitental zum Rhonetal, in dem noch französisch gesprochen wird. Im oberen Teil teilt es sich in zwei Seitentäler, das Val de Mory im Westen und das Zinatal im Osten. Vor drei Jahren haben sich die 6 Gemeinden im Tal zur Gemeinde Anniviers zusammengeschlossen.

Nach einem stetigen Bevölkerungsschwund bis in die 70er-Jahre auf etwas über 1000 Personen, liegt die Bevölkerungszahl heute bei rund 2500. Für Touristen hat es 25’000 Betten, 17’500 davon befinden sich in Zweitwohnungen.

Gemessen an der Fläche ist Anniviers die viertgrösste Gemeinde der Schweiz. 1,5 Prozent der Fläche wurde als Bauzone ausgeschieden. Die andern Flächen werden land- und forstwirtschaftlich genutzt oder gehören zum Naturschutzgebiet.  

Die Volksinitiative “Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen”, die von den Stiftungen “Fondation Franz Weber” und “Helvetia Nostra” lanciert wurde, kommt am 11. März zur Abstimmung.

Das Volksbegehren verlangt, dass der Zweitwohnungsanteil pro Gemeinde maximal 20 Prozent betragen darf. In Gemeinden, in denen dieser Anteil bereits überschritten ist, würde die Bestimmung einen Baustopp für Zweitwohnungen bedeuten. Bestehende sollen aber erhalten bleiben.

Die Initiative geht gegen eine Entwicklung vor, die als Problem weithin erkannt ist. Auch Bundesrat und Parlament bekräftigten, dass dem Zweitwohnungsbau Einhalt zu gebieten sei.

In vielen Tourismusgemeinden ist der Zweitwohnungsanteil auf über 50 Prozent angewachsen – mit unerwünschten Folgen für die Landschaft, Natur, die Immobilienpreise und auch die gesellschaftlichen Strukturen.

Zwischen den Volkszählungen 1980 und 2000 stieg die Zahl der “nur zeitweise bewohnten Wohnungen” in der Schweiz von 240’000 auf 420’000.

Das Initiativkomitee schätzt die Anzahl Zweitwohnungen heute auf 600’000. Der Bundesrat spricht von 500’000. Beide Angaben sind Hochrechnungen.

Derzeit mehrheitsfähig:

Die Initiative kommt laut einer ersten Umfrage des Forschungsinstituts gfs im Auftrag der SRG SSR derzeit bei einer Mehrheit der Stimmberechtigten an.

Wäre Ende Januar abgestimmt worden, hätten 61 Prozent der Befragten zugestimmt, 27 Prozent wären dagegen gewesen.

Gegenvorschlag in Kraft

Bei der Beratung der Initiative hat das Parlament einen indirekten Gegenvorschlag erarbeitet, der seit Sommer 2011 in Kraft ist.

Er verpflichtet die Kantone, in ihren Richtplänen bis spätestens 2014 Gebiete mit besonderem raumplanerischem Handlungsbedarf auszuweisen.

Die betroffenen Gemeinden haben dann Vorkehrungen zur Beschränkung des Zweitwohnungsbaus zu treffen. Werden keine Massnahmen ergriffen, ist der Bau neuer Zweitwohnungen verboten.

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