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Schweizer Konsens und deutsche Streitkultur

swissinfo.ch

Wegen der gemeinsamen Sprache, der ähnlichen Mentalität und der hohen Lebensqualität ist die Schweiz für Deutsche äusserst attraktiv. Dies sagt Andreas von Stechow, deutscher Botschaft in der Schweiz.

Der bald 65-jährige Diplomat aus Ranis, Thüringen, leitet die deutsche Botschaft in Bern seit 2006. “Ein Superposten in einem wunderschönen Land”, sagt er.

Er kennt die Schweiz von früheren Tätigkeiten her bestens. Seine Erinnerungen gehen aber weiter zurück: Im Alter von fünf Jahren, nach dem Krieg, verbrachte von Stechow einige Monate auf einem Bauernhof in Solothurn.

“Deutschland war ausgebombt, wir waren Flüchtlinge, es gab praktisch nichts zu essen. Meine Mutter stand mit den Kleinkindern alleine da, der Vater war in Kriegsgefangenschaft.”

Die Schweiz als Paradies

Der Aufenthalt auf dem Bauernhof sei das Paradies gewesen, denn es gab genügend zu Essen. Erst später habe er erfahren, dass die Schweizer damals auch nicht so viel hatten.

Jedenfalls hat von Stechow diese positiven Erinnerungen sein Leben lang mitgetragen, wie er gegenüber swissinfo erzählt. “Auf allen Auslandposten war ich mit dem Schweizer Botschafter besonders gut befreundet.”

Die Gasteltern von damals konnte er später nicht mehr ausfindig machen. “Wir haben in Dateien von Rotkreuz und anderen Hilfsorganisationen nachgeforscht – erfolglos.”

Die Schweiz ist nicht nur für den deutschen Botschafter, der die Berge liebt und gerne fotografiert, attraktiv, sondern auch für deutsche Staatsbürger. So ist der kleine Nachbar der Deutschen beliebtestes Auswanderungsland geworden.

Hohe Lebensqualität

Eine globale Wirtschaft mit Freizügigkeit habe logischerweise Wanderungsbewegungen zur Folge, betont von Stechow. In Deutschland lebten proportional zur Bevölkerung weit mehr Schweizer (73’000, also 1% aller Schweizer) als Deutsche in der Schweiz (200’000, das sind 0,25% der Deutschen).

Der wichtigste Punkt für die Beliebtheit der Schweiz sei die Lebensqualität, und die habe auch mit der gemeinsamen Sprache zu tun. Aber nicht nur: “Die Deutschen kommen, weil sie gutes Geld verdienen können. Und eine schöne Umgebung mit den Alpen vor der Haustür und deutlich besser geregelte Arbeitszeiten sind für einen Arzt oder Uniprofessor attraktiv.”

Deutschland leide an einem Brain-Drain, gerade weil Ärzte und Professoren von der Schweiz gerne eingestellt würden. “Die fehlen dann in Deutschland. Dieses Problem kann man nicht mit restriktiven Massnahmen in den Griff kriegen. Man muss die Attraktivität des Berufs zu Hause erhöhen.”

Die Schweiz brauche Arbeitskräfte, da die Wirtschaft boomt. Und die Arbeitgeber “guckten voller Vernunft” über die Grenze. Es sei einfacher, einen Deutschen zu nehmen, der die Sprache spreche und dazu noch qualifiziert sei.

“Den kann man gleich integrieren, das funktioniert auch mentalitätsmässig sehr gut, weil man ähnlich denkt über den Ethos am Arbeitsplatz.”

Zu wenig Anreize?

Der hohe Anteil von deutschen Professoren an Schweizer Universitäten hat in den letzten Monaten in der Schweiz zu einer Polemik geführt. Es war gar von einer “Germanisierung der Hochschullandschaft” die Rede. Diese Interpretation findet der deutsche Botschafter fehl am Platz.

“Die Universität Zürich wurde von elf Professoren gegründet. Alles Deutsche. Wie damals müssen die Lehrbeauftragten auch heute aus dem Ausland geholt werden, da sich kaum Schweizer bewerben.”

Die Antwort auf die Frage, wieso die Schweizer eher selten eine akademische Laufbahn einschlagen, ist laut von Stechow in der Schweiz zu suchen. “Vielleicht wird während der Schulzeit eher für eine Wirtschafts- oder Bankenkarriere motiviert?”

Demokratie als Zweckverband

Den grössten Unterschied zwischen der Schweiz und Deutschland sieht von Stechow im Konsens-Prinzip, welches in der Schweiz stärker entwickelt sei. “Die Deutschen sind viel mehr eine Streitkultur. Das hat Tradition und ist gar Teil der Schulausbildung.”

Deutsche sind laut dem Diplomaten auch hierarchiegläubiger als Schweizer, das Chefdenken sei ausgeprägter. In der Schweiz werde eher nach einem gemeinsamen Nenner gesucht.

Die Schweizer Demokratie ist für den Botschafter ein Zweckverband. Das Land bestehe aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die miteinander auskommen müssten. “Die Eliten kennen sich, man redet miteinander.” Deshalb sei die Schweiz ein Vorbild und guter Ratgeber für junge Staaten wie den Kosovo.

Schweizer und Deutsche sind sich nah

Wer in einem anderen Land leben und arbeiten will, so von Stechow, müsse auf die Leute zugehen und die Sprache verstehen lernen. Versuche man jedoch, Schweizerdeutsch zu reden, könne man sich leicht lächerlich machen. So nach dem Motto: Der biedert sich an.

“Sich lustig machen, wenn einer anders spricht, ist eine menschliche Grundeigenschaft. Gerade bei ähnlichen Bevölkerungen.” An der Basler Fasnacht seien in den Schnitzelbänken Witze über die Schwaben gemacht worden, aber auch die Zürcher und Welschen hätten ihr Fett abbekommen.

Die Beziehungen zwischen Schweizern und Deutschen seien eng, viele hätten auch familiäre Beziehungen untereinander. “Und gerade in Familien streitet man besonders häufig. Wenn kein Problem da ist, macht man sich eines.”

swissinfo, Gaby Ochsenbein

Gemäss Ausländerstatistik per Ende 2007 sind von den gut 7,5 Mio. Einwohnerinnen und Einwohnern in der Schweiz 1,57 Mio. Ausländer.
Das sind 20,7% der Bevölkerung.
Mehr als 200’000 oder 12,9% aller Ausländer stammen aus Deutschland.
Deutschland steht damit nach Italien (18,43%) an 2. Stelle, gefolgt von Serbien (11,6%) und Portugal (11,6%).
Rund 40’000 deutsche Staatsangehörige kamen 2007 in die Schweiz, etwa 10’000 haben sie verlassen.
2007 haben 1361 Deutsche das Schweizer Bürgerrecht erworben.
2006 waren es 1134.
Seit August 2007 können die Deutschen Doppelbürger bleiben.
Seither haben die Gesuche um die Schweizer Staatsbürgerschaft markant zugenommen.

Geboren 1943 in Ranis, Thüringen, ehemals DDR.

Verbrachte die Schulzeit in Deutschland, Italien, Dänemark.

Studium der Rechtswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften.

1971 Eintritt in den Auswärtigen Dienst.

War in Frankreich, Tansania, Madagaskar, Genf, Japan und Thailand tätig.

Von 2006 bis Sommer 2008 Botschafter in der Schweiz.

Von Stechow ist mit einer Japanerin verheiratet und Vater von zwei Söhnen.

Botschafter Andreas von Stechow: “Wegen der Vorfälle mit Liechtenstein hat der Steuerstreit zwischen der Schweiz und der EU wieder an Brisanz gewonnen. Er bleibt eine Belastung, auch in den Beziehungen zu Deutschland.

Der baden-württembergische Ministerpräsident Oettinger hat vor kurzem gesagt: ‘Wir können es in einem so eng zusammenarbeitenden Europa nicht hinnehmen, dass sich einige, die nicht zur EU gehören, durch Schaffen von Vorschriften als Oasen gebärden und die Steuerzahler aus Deutschland weglocken. Da muss man etwas unternehmen.’

Das betrifft in Sachen Steuerstreit auch die Schweiz. Es gibt viele Unternehmen, die in die Kantone, die dafür bekannt sind, abgewandert sind, und zwar auf Grund einseitig diskriminierender steuerlicher Regelung bei der Holding-Besteuerung.

Da hat man ganz bewusst die Voraussetzung geschaffen, dass diese Firmen abgeworben werden, auch aus Deutschland. Und die sind dann bei uns keine Steuerzahler mehr.”

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