Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Schweizer Presse hofft auf mehr Kollegialität

Die neuen Bundesräte Johann Schneider Ammann und Simonetta Sommaruga: Einhelliger Applaus in der Presse zum Ergebnis der Bundesratswahlen. EQ Images

Die Schweizer Zeitungen sind zufrieden mit der Wahl der neuen Mitglieder des Bundesrats. Ihrer Einschätzung nach wird sich nach den Wahlen 2011 an der Verteilung der Macht etwas ändern. Das Geschlecht der Kandidierenden habe keine Rolle gespielt.

Der Blick ist der Meinung: “Das war ein guter Tag für unser Land.” Bundesbern habe bewiesen, dass es eben doch mehr könne als pöbeln statt politisieren. An diesem Eindruck hätten nicht einmal die üblichen SVP-Verdächtigen etwas ändern können, die nach der Wahl “schon wieder die gleichen Droh-Platten” hätten ablaufen lassen.

Kompetenz ohne Diskriminierung

Ebenfalls voller Hoffnung ist die Westschweizer Tageszeitung Le Temps: Ein in den Augen der Bevölkerung glaubwürdigerer Bundesrat sei nun möglich geworden.

Weder das Geschlecht noch der Herkunftsort hätten eine grosse Rolle gespielt, obwohl die Grünen und die dogmatischen Linken eine fünfte Frau im Bundesrat verhindert hätten. Vier Frauen in einer Regierung, die sich historisch gesehen sehr widerspenstig gegen die Gleichheit der Geschlechter gezeigt habe, sei eine starke Botschaft: Es gehe um Kompetenz ohne Diskriminierung.

Die Unabhängigkeit von Simonetta Sommaruga, ihre Abweichungen von der Parteilinie und ihr Kampf gegen die grossen Lobbys hätten ihr auch schaden können. Sommaruga habe ihre Wahl dominiert, sie sei schlicht die beste der Linken gewesen.

Die Wahl von Johann Schneider Ammann überrasche nicht, meint Le Temps. Er sei der ideale Kandidat der Liberalen, um die Nachkrise der Finanzkrise zu meistern.

Der Giornale del Popolo schreibt bezüglich der Frauenmehrheit: “Wir sind nun die Klassenbesten geworden, nach den Jahren in der Ecke wegen der Weigerung, den Frauen das Stimmrecht zu geben.”

Auch für die Neuenburger Tageszeitung L’Express hat die Schweiz für einmal einen Geschwindigkeitsrekord aufgestellt. Weniger als 40 Jahre, nachdem das Land als eines der letzten Länder das Frauenstimmrecht einführte, gehöre die Schweiz nun zu den seltenen Nationen, die eine Frauenmehrheit in der Regierung etabliert hätten.

Mehr Kollegialität dank Frauenmehrheit?

Symbolisch gesehen habe der Übergang zu einer Frauenmehrheit eine grosse Aussagekraft, meint auch die Tribune de Genève. Vierzig Jahre nach dem Frauenstimmrecht werde der Kampf für die Gleichberechtigung so gekrönt. Ob die neue Konstellation es erlaube, den Weg zurück zu mehr Kollegialität zu finden, fragt sich die Genfer Tageszeitung.

“Niemals in der jüngeren Geschichte sind die Bedingungen dafür so gut gewesen.” Wenn die gestern neu gewählte Regierung es nicht schaffe, das Vertrauen untereinander und zur Bevölkerung wiederherzustellen, sei bewiesen, dass es nicht nur die Männer, sondern das System sei, das geändert werden müsse. Es sei besser, sich darauf vorzubereiten, orakelt die Tribune de Genève.

Dieser Mittwoch werde als gut und schön in die Geschichte eingehen, kommentiert das Westschweizer Boulevardblatt Le Matin. Die Geschichte werde rosarot geschrieben. Für ein Jahr jedenfalls.

Laut der Tessiner Tageszeitung La Regione erlaubt es die Wahl dieser zwei Persönlichkeiten, im Regierungsgremium den Geist der Kollegialität zu etablieren, der in der letzten Zeit gefehlt habe.

Über ihren Schatten gesprungen

Der Tages-Anzeiger und der der Bund bezeichnen die Wahl von Simonetta Sommaruga als “spektakulär”. Viele Bürgerliche seien über ihren Schatten gesprungen und hätten die talentiertere Linke gewählt, “obschon sie so der der SP zu einer populären Bundesrätin verhelfen” und sich selbst eine Widersacherin mit Substanz eingehandelt hätten. Doch sie hätten eingesehen, dass jetzt die vielversprechendsten Köpfe in den Bundesrat gehörten.

Johnann Schneider-Amman bezeichnen der Tages-Anzeiger und der der Bund als “Rechten mit Mass und Anstand, als Unternehmer mit Respekt für die Sozialpartnerschaft”.

Stabile Verhältnisse seien in absehbarer Zeit wichtiger denn ja, die Aufgaben, die der Bundesrat zu lösen habe, seien gigantisch, der Finanzplatz brauche ein neues Fundament, die AHV einen langfristigen Rettungsplan, die Eisenbahn zusätzliche Milliarden. “Zudem muss die Schweiz ihr Verhältnis zur EU auf eine neue Basis stellen – und wer weiss, plötzlich sind wir mittendrin in einer Beitrittsdiskussion.”

“Madame Perfect und Mister Werkplatz”

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) tituliert Simonetta Sommaruga als “Madame Perfect”. Sie gehöre zu den herausragendsten Figuren unter der Bundeshauskuppel, sei vom Habitus her keine “prototypische Sozialdemokratin”, verfechte aber gleichwohl “hartnäckig” linke Positionen. Mit ihrer Wahl sei die Hoffnung verknüpft, dass Agilität und Teamfähigkeit im Bundesratskollegium gestärkt würden.

Dem “Mister Werkplatz”, wie die NZZ Johann Schneider-Ammann nennt, sei sein Leistungsausweis als international tätiger Unternehmer zugute gekommen. Für die FDP sei Schneider-Ammann ein Glücksfall, weil er seine Partei wirtschaftspolitisch profiliere.

Nächstes Jahr allerdings, so die NZZ, sei die SVP an der Reihe. Die Konkordanz habe keine Zukunft, wenn die klar wählerstärkste Partei in die Oppositionsrolle gezwungen werde. Nach den Parlamentswahlen könne der Sitz, den Eveline Widmer-Schlumpf beansprucht, nicht mehr der SVP zugerechnet werden. Einen Blankocheck werde die SVP aber nicht erhalten.

“Wurzel allen Übels “

Für die Basler Zeitung ist “die Wurzel allen Übels”, dass die SVP nur mit einem Mitglied im Bundesrat vertreten sei. Dies müsse in den Parlamenswahlen vom kommenden Jahr korrigiert werden. Ausdrücklich hebt die “Basler Zeitung” die Qualitäten des zweimal erst im letzten Wahlgang ausgeschiedenen SVP-Bundesratskandidaten Jean-François Rime hervor. Er habe sich somit schon für 2011 empfohlen.

Der Bundesrat ist die Schweizer Regierung (Exekutive).

Sie besteht aus sieben Mitgliedern, die alle vier Jahre vom Parlament (Vereinigte Bundesversammlung) gewählt oder bestätigt werden.

Ein Mitglied der Landesregierung wird “Bundesrat” oder “Bundesrätin” genannt. Jeder Bundesrat, jede Bundesrätin, steht einem Departement als Minister oder Ministerin vor.

Aus ihrer Mitte wird jährlich abwechselnd nach Amtsdauer der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin gewählt. Das Amt ist repräsentativ und nicht mit zusätzlicher Macht verbunden.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft