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Sehnsucht und kaum Hoffnung im Irak

Schon wieder ein Bombenanschlag, diesmal in Basra im Süden des Landes am 25. August 2010. Keystone

Seit bald 50 Jahren lebt Humam Al-Jabaji aus dem südirakischen Basra in der Schweiz. Gerne würde er sein Land besuchen, doch es sei zu unsicher und zu gefährlich. So verfolgt er das dortige Geschehen aus der Ferne - mit Interesse und Besorgnis, jeden Tag.

Seit dem 1. September sind die US-Truppen nach über siebenjährigem Kampfeinsatz aus Irak abgezogen. US-Präsident Barack Obama hat die Mission “Freiheit für Irak” offiziell für beendet erklärt, will heissen: Der Krieg ist zu Ende.

Humum Al-Jabaji sieht das anders: Das sei ein politisches Manöver und bedeute in keiner Weise das Ende des Krieges und die Unabhängigkeit für Irak. “Zwischen dem, was sie sagen, und dem, was Realität ist, klafft eine riesige Kluft”, sagt der irakisch-schweizerische Doppelbürger im Gespräch mit swissinfo.ch.

Wegen Budget-Problemen könnten sich die USA eine so grosse Armee nicht mehr leisten. Um die Sicherheit sorgten sich jetzt Firmen wie “Blackwater”, für die der Irak zahlen müsse. Das Land aber bleibe unter US-Besatzung, an jeder Ecke stehe ein US-Stützpunkt, 93 seien es insgesamt.

Willkür und Korruption

Der pensionierte Elektroingenieur zeichnet ein düsteres Bild seines Landes, auch wenn er von “Natur her kein pessimistischer Typ” sei. “Die Sicherheitslage ist miserabel, obwohl mit allen Mitteln versucht wird, zu beschönigen und Informationen zu vertuschen.” Das Rechts-System sei zusammengebrochen.

Laut Al-Jabaji ist Korruption in allen Behörden verbreitet: “Das reicht vom Türsteher bis hin zum Minister.” Auch die Polizei sei korrupt und stecke mit den Banditen unter einer Decke. Diese Tatsache hinterlasse bei der Bevölkerung eine tiefe Ohnmacht. “Wer den Mund nicht hält und sich beklagt, wird abgeknallt. Im Irak regiert das Gesetz des Stärkeren.” Für die Schweiz sei dies alles unvorstellbar.

Al-Jabaji, der aus Abu al-Chasib bei Basra stammt, befasst sich jeden Tag stundenlang mit seinem Land und der ganzen Welt. “Ausser mit der Schweiz, da passiert ja gar nichts.” Morgens informiert er sich jeweils über zwei irakische Fernsehkanäle, die “noch ein bisschen objektiv und nicht religiös gefärbt sind”, schaut den arabischen Sender Al-Jazeera und liest BBC online. Zudem pflegt er den telefonischen Kontakt mit Familienangehörigen, die in Irak, Jordanien, den USA, England und Deutschland leben. “Wer konnte, hat das Land verlassen.”

Hoher Standard ohne Freiheit unter Saddam

Während des Regimes von Saddam Hussein war das Telefonieren mit den Angehörigen im Irak schwieriger. “Man wurde abgehört. Ein einziges falsches Wort konnte bedeuten, dass die ganze Familie verschleppt wurde. Wenn man fragte: ‘Wie geht’s?’, lautete die Antwort: ‘Sehr gut, mach dir keine Sorgen’. Aber man wusste genau, dass das nicht stimmt.”

Materiell sei es den Leuten unter Saddam besser gegangen als heute. “Infrastruktur und Sicherheit waren gut, die Bildung gratis, und die Leute erhielten genügend Essensrationen. Aber man durfte den Mund gegen Saddam Hussein nicht aufmachen. Sonst war man weg vom Fenster”, sagt Al-Jabaji.

Heute sei telefonieren kein Problem mehr, denn der Staat habe keine Kontrolle über die Bevölkerung, jeder mache, was er wolle, es herrschten anarchische Zustände. Die Preise seien hoch, die Lebensqualität tief, die Armut furchtbar. “Die Kinder gehen nicht mehr zur Schule, sondern auf dem Markt arbeiten. Die Universitäten sind zusammengebrochen. Aus Angst, umgebracht zu werden, unterrichten die Professoren zu Hause – gegen Geld.”

Tägliches Töten

Wie Al-Jabaji erzählt, werden in Bagdad jeden Tag Menschen umgebracht und auf den Müll geworfen. Häufig seien weder Opfer, Täter noch Motiv bekannt. “Wurden sie aus persönlicher Rache, aus Geldgier oder aus politischen Gründen getötet? “

Auch Humam Al-Jabajis Familie hat Opfer zu beklagen: So wurde sein jüngster Bruder und Vater von sieben Kindern vor seinem Haus erschossen. Ein weiterer Verwandter wurde zusammen mit seiner Frau im Auto getötet. “Jede Familie in Irak hat jemanden verloren”, sagt Al-Jabaji.

Es gibt wohl kein Zurück

Früher erhielt Al-Jabaji oft Besuch von Verwandten und besuchte den Irak etwa alle vier Jahre für zwei Wochen. “Länger durfte man als Ausland-Iraker nicht bleiben, sonst gab es Probleme.” 1994 war er zum letzten Mal dort. Auch eine definitive Rückkehr nach Irak war immer wieder Thema, so etwa in den frühen 1970er-Jahren, als es im Land zwischen Euphrat und Tigris relativ ruhig war.

“Der bürokratische Aufwand war bereits getätigt, ich musste nur noch meine Stelle und die Wohnung kündigen.” Aber dann erfolgte erneut ein Putsch. Und da waren die vier Kinder, die in der Schweiz geboren wurden und zur Schule gingen. In den 1980er-Jahren tobte der erste Golfkrieg zwischen Irak und Iran, es folgte der zweite gegen Kuwait und ab 2003 der Krieg mit den USA. So verging die Zeit, und die Familie Al-Jabaji blieb.

Natürlich möchte der Mann aus Basra nochmals nach Irak. “Dort ist meine Heimat, ich möchte meine Verwandten besuchen. Aber es gibt keinen Weg mehr dorthin. Wenn man im Ausland lebt und sich irgendwo einmal am Radio oder in der Presse kritisch über die Regierung geäussert hat, ist man wohl registriert. Wird man erwischt, droht das Schlimmste.” So bleibt ihm nur, seinen Angehörigen Geld zu schicken, damit sie einigermassen überleben können.

“Wir kennen nur ein Thema”

Etwa einmal im Monat trifft sich Al-Jabaji mit anderen Exil-Irakern, sie tauschen Neuigkeiten aus und reden über Politik. “Wir kennen kein anderes Thema.” Unter den Irakern in der Schweiz – eine kleine Gemeinschaft von ein paar Tausend – kennt er keinen einzigen, der unter den jetzigen Umständen zurückkehren möchte. “Als Mensch kann man dort nicht leben.”

“Wenn die Verantwortlichen heute mit der Arbeit beginnen, wird es 20 bis 30 Jahre dauern, bis Irak wieder ein Land sein wird wie etwa der Libanon. Aber sie haben noch nicht einmal ansatzweise angefangen. Und die fähigsten Leute leben in Syrien und Jordanien. Diese Exil-Iraker sind jedoch schon jetzt über 70. Und im Irak selber werden keine Jungen nachgezogen”, sagt ein nachdenklicher Iraker, der seine Heimat vielleicht nicht mehr wieder sehen wird.

Gaby Ochsenbein, Schwerzenbach, swissinfo.ch

Humam Al-Jabaji stammt aus Abu al-Chasib, südlich von Basra.

Aufgewachsen ist er in einer angesehenen irakischen Familie mit sieben Kindern. Der Vater war Rechtsanwalt.

Als 20-Jähriger erhielt er ein Stipendium und studierte in Stuttgart, Deutschland, Elektroingenieur.

Er ist mit einer Deutschen verheiratet und hat vier erwachsene Kinder.

Der 72-jährige Doppelbürger lebt seit 1962 in der Schweiz.

Kriegsbeginn: 20. März 2003 – ohne UNO-Mandat

31. August 2010 Abzug der US-Kampftruppen

50’000 US-Soldaten bleiben bis Ende 2011

Kosten für die USA: gegen 1 Billion Dollar

Einsatz von insgesamt 1,5 Mio. US-Soldaten

112’600 tote irakische Zivilisten

9500 tote irakische Soldaten und Polististen

4416 tote US-Soldaten

141 getötete Journalisten

Bis Juni 2010 mindestens 2160 Terroranschläge

Dabei wurden knapp 20’400 Menschen getötet und 43’700 verletzt.

Seit 2003 312 verschleppte Ausländer, 60 von ihnen wurden getötet, 149 kamen wieder frei.

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