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Bald omnipräsent: Die Augen der Überwachungskameras. Keystone

Die elektronische Überwachung von öffentlichem und privatem Raum nimmt ständig zu. Die SBB starten bereits ihren zweiten Versuch mit Kamera-Überwachung.

In Zürich ist der Bahnhof schon videoüberwacht, Versuche in Regionalzügen und Bussen laufen an.

“George Orwell hat sich geirrt. Nicht ein ‘grosser Bruder’ wacht über die Menschheit, sondern viele kleine Brüder wachen”, meint Jürgen Roos, Polizeidirektor in Rossbach/Wied, Deutschland. Auch in der Schweiz ist die zunehmende Überwachung ein Thema.

Für die SBB ist der erste Versuch mit videoüberwachten Zügen in der Romandie positiv verlaufen. Der Vandalismus in den mit Kameras bestückten Wagons sei um 80% zurück gegangen. Nun wird das System auch in der Deutschschweiz getestet, auf der Strecke Olten-Basel-Delsberg.

Weshalb braucht es einen zweiten Versuch? “Die Mentalität in der französischen und der deutschen Schweiz ist unterschiedlich. Wir wollen testen, ob das welsche Konzept auch jenseits des Röstigrabens funktioniert”, sagt Roland Binz, Mediensprecher der SBB.

“Ausserdem ist die Versuchsanordnung unterschiedlich”, erklärt Binz weiter. “Beim ersten Versuch war beim Lokführer ein Bildschirm installiert. Die SBB registrieren jetzt die Aktivitäten auf einem Videoband, das bei einem Delikt konsultiert wird. Der Lokführer kann sich auf seine Arbeit konzentrieren.”

Der Zugriff auf die Aufzeichnungen ist streng reglementiert. Nur ausgewählte Bahn-Mitarbeiter haben das Recht, die Bänder zu sichten. Bei Delikten erhält auch die Polizei Einsicht.

Gesetzliche Grundlage fehlt

“Eine gesetzliche Grundlage für die Überwachung in Zügen ist bis jetzt nicht vorhanden”, sagt Jean-Louis Wanner, Leiter der Geschäftsstelle Datenschutzaufsicht des Kantons Basel Stadt.

“Deshalb muss der Einsatz von Kameras in Zügen als Versuch deklariert werden.” Die Auswertung der Versuche soll dann die Grundlage für die Ausarbeitung eines Gesetzes bilden.

“Eine Videoüberwachung ist der grösste Eingriff in die persönliche Sphäre.” Ein Kamera-Einsatz sei nur bei einem entsprechenden Gefährdungspotential zulässig; allerdings müssten solche Orte mit Hinweisschildern kenntlich gemacht werden.

Die SBB sind auf diese Forderung der Datenschützer eingegangen. Die Waggons sind deutlich gekennzeichnet. Wer sich nicht filmen lassen will, kann einen anderen Waggon wählen.

Frage der Verhältnismässigkeit

Wer sich im Zürcher Hauptbahnhof bewegt, hat diese Ausweichmöglichkeit nicht. Über 100 Videokameras überwachen das geschäftige Treiben. Täglich frequentieren rund 400’000 Personen den Verkehrsknotenpunkt. Die SBB sehen keine Notwendigkeit, die Passanten auf die Video-Überwachung mit Hinweis-Schildern aufmerksam zu machen.

“Videoüberwachung ist eine Frage der Verhältnismässigkeit. Sie sollte nur dort zum Einsatz kommen, wo andere Hilfsmittel nicht mehr effektiv eingesetzt werden können”, betont Kosmas Tsiraktsopoulos, Sprecher des Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten.

Die Sicherheitsbedürfnisse der Menschen liessen sich nicht mit Videoüberwachung allein lösen. Die Überwachung könne aber präventiv wirken und dazu beitragen, Sicherheitsprobleme oder Vandalismus zu reduzieren.

Einem Gewaltopfer nütze es indes wenig, wenn die Kamera das Beweismaterial liefere. Es wäre ihm lieber, wenn jemand da gewesen wäre, der den Gewaltakt verhindert hätte.

Tsiraktsopoulos ist überzeugt, dass sich Menschen trotz Videoüberwachung dort am sichersten fühlen, wo sie Menschen, sprich Patrouillen, sehen.

ZVV setzt auf Menschen und Kameras

Der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) hat nach einigen Gewalttaten in Zügen die Zugsbegleitung wieder eingeführt. Abends und nachts sollen in allen S-Bahnen Zweierpatrouillen für Sicherheit sorgen. Sie kosten den ZVV 14,3 Mio. Franken jährlich.

Die neuen S-Bahn Züge, welche der ZVV anfangs Monat bestellt hat, sind für die Aufrüstung mit Überwachungs-Kameras vorbereitet. Erste Versuche in Postbussen und Regionalzügen sollen noch in diesem Jahr stattfinden.

Kameras nur bedingt wirksam

Eine verstärkte Überwachung bedeutet jedoch nicht unbedingt eine entsprechende Reduktion der Delikte.

Studien in Grossbritannien, wo ein grosser Bereich des öffentlichen Raumes mit Videokameras observiert wird, zeigen, dass bei flächendeckender Überwachung, die Delikte tatsächlich zurückgehen.

Dennoch wird an den überwachten Orten nach wie vor ein Drittel der bisherigen schweren Gewalttätigkeit ausgeübt. Fachleute erklären dies durch ein schrumpfendes Angst- oder Abschreckungspotenzial.

Kein Vetorecht der Datenschützer

Tsiraktsopoulos weist noch auf eine andere Gefahr hin: “Je grösser und flächendeckender die Videoüberwachung durchgeführt wird, desto höher steigt das Risiko, dass mit den gewonnenen Daten etwas Illegales gemacht wird.”

Prinzipiell wäre es auch möglich, dass Video-Aufnahmen verschiedenster Standorte vernetzt und mittels automatischer Gesichtserkennung, wie sie auf dem Zürcher Flughafen getestet wird, ausgewertet werden. Dies liegt laut Tsiraktsopoulos aber noch in weiter Ferne.

Vor allem müssten in so einem Fall erst die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden. Doch verhindern können dies die Datenschützer nicht. “Wenn die politische und die parlamentarische Diskussion zum Schluss kommt, man brauche eine flächendeckende Videoüberwachung, und diese dann gesetzlich abstützt, dann hat die Politik so entschieden – gegen die Meinung der Datenschützer”, erklärt der Basler Datenschützer Jean-Lous Wanner. “Datenschützer haben kein Vetorecht.”

swissinfo, Etienne Strebel

Ohne Rechtsgrundlage ist die Videoüberwachung mit Aufzeichnung unzulässig.

Der Einsatz von Video-Kameras wurde deshalb von den SBB als Versuch deklariert.

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