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Sturm im Chemieglas

Chemieprodukte: Künftig mit Unbedenklichkeits-Nachweis ab Fabrik. Keystone

Die EU will die Gesundheitsrisiken chemischer Substanzen verringern. Die geplante Gesetzesreform beunruhigt die Schweizer Industrie.

Laut der neuen Chemie-Richtlinie müssen die Hersteller und nicht der Staat für die Unbedenklichkeit der chemischen Substanzen garantieren.

“Die Schweizer Chemie-Industrie ist durch das europäische Reformprojekt stark betroffen”, sagt Paul Vessel, Manager bei der Schweizerischen Gesellschaft für Chemische Industrie (SGCI). “60% unserer Exporte gehen in die Europäische Union.”

Die EU-Kommission will ein einheitliches System für die Registrierung, Prüfung und Zulassung von Chemikalien einführen. In den kommenden elf Jahren sollen rund 30’000 chemische Substanzen getestet und erfasst werden.

Die neuen Richtlinien fussen auf einer Umkehr der Beweislast: Neu soll nicht mehr der Staat kontrollieren, ob die chemischen Substanzen ungiftig oder unbedenklich sind, sondern der Hersteller hat selber nachzuweisen, dass seine Produkte kein Gesundheitsrisiko in sich bergen.

Das könnte ins Geld gehen. Die Kosten innerhalb der EU werden bis auf 5,8 Mrd. Dollar (rund 7,8 Mrd. Franken) geschätzt. Das neue Gesetz ist heftig umstritten, und EU-Parlament sowie Ministerrat müssen REACH, so der Name des Reformprojekts, noch zustimmen.

Auswirkungen auf Schweizer Chemie noch offen



Müssen sich in Zukunft auch Schweizer Hersteller der neuen EU-Chemie-Verordnung unterordnen, um als Lieferanten die Standards ihrer Kundschaft wahren zu können? “Das muss für Importe in EU-Länder nicht der Fall sein”, vermutet Torsten Neumann, BASF-Sprecher, gegenüber swissinfo.

“Da es sich bei dieser Richtlinie erst um einen Entwurf handelt, ist die Sachlage noch nicht klar.” Viel hänge auch davon ab, was die bisherigen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU beinhalten.

Gegenteiliger Meinung ist SGCI-Vizedirektor Richard Gamma: “Jeder Nicht-EU-Hersteller, der einen Stoff in die EU einführt, muss dazu sein Dossier vorlegen und den Nachweis erbringen”, sagt er gegenüber swissinfo. “Wenn dies nicht so wäre, würden ja alle Chemieproduzenten in die Schweiz kommen, um hier zu produzieren.”

Starke Präsenz im EU-Raum

Doch die Schweiz ist nicht nur als “Lieferantin von aussen” involviert, sondern direkt mit Standorten und Kapital in der EU. Zum Beispiel erwirtschaftet die Ems Chemie von Christoph Blocher zwei Drittel ihrer Umsätze in EU-Staaten. In der Schweiz selbst ist die chemische Industrie mit rund 65’000 Angestellten zweitgrösster Arbeitgeber. Die entsprechende Lobby-Macht in Brüssel und in der Schweiz dürfte deshalb beachtlich sein.

Der EU-Entwurf wird von Seiten der Industrie wie auch von Seiten engagierter NGOs kritisiert. Die Industrie ärgert sich wegen den Kosten, die NGOs befürchten einen unnötig langsamen Abbau der gesundheits-schädigenden Chemiesubstanzen.

Zielkonflikte



Der grösste Anteil an chemischen Substanzen steckt nicht in Pharmazeutika, sondern mit einem Anteil von rund 90% in Lacken und Farben, 80% Chemieanteil weisen Pharmaprodukte auf, 70% Kosmetika und immerhin noch 10% Nahrungsmittel.

“Die Substanzen in Nahrungsmitteln sind alle schon getestet worden”, sagt Bernd Pomrehn, Chemie-Analyst bei der Zürcher Kantonalbank. “Offenbar geht es bei diesem Entwurf um Substanzen, die bereits einmal getestet worden waren. Doch heute hat man neue Methoden.”

Der Analyst sieht bereits gewisse Zielkonflikte auftauchen. So bestehe eine Regelung, dass Substanzen nur einmal an Tieren getestet werden dürfen. Wenn nun nochmals an Tieren getestet würde, könnte die neue EU-Richtlinie dem Tierschutzgedanken zuwiderlaufen, vermutet er.

Wettbewerbs-Vorteil



Umgekehrt könnten die neuen Richtlinien den europäischen Herstellern aber auch einen Wettbewerbs-Vorteil verschaffen: “Sehr langfristig gedacht könnten die Hersteller in den EU-Ländern von so einer Direktive sogar profitieren, weil ihre Produkte dadurch sicherer werden.”

Die neuen EU-Vorschriften haben auch direkte Auswirkung auf die Schweizer Gesetzgebung. Die Schweizer Regierung ist dabei, eine Vernehmlassung zur Frage vorzubereiten, wie man die schweizerischen Gesetze an die EU-Vorgaben anpassen könnte. Im Normalfall geht man davon aus, dass die Schweiz ihre Gesetzgebung an Brüssel anpasst.

swissinfo, Alexander Künzle

Das neue Genehmigungs-System ist einheitlicher und soll das alte ersetzen, das nur Produkte ab 1981 erfasst.

Kern der Refom ist die Umkehr der Beweislast. Nicht der Staat, sondern die Hersteller müssen die Unbedenklichkeit ihrer Produkte beweisen.

Deutschland ist innerhalb der EU mit 80 Mrd. Dollar der grösste Chemie-Hersteller.

Es folgen Frankreich und Grossbritannien mit je rund 40 Mrd.

Die Schweiz figuriert mit 27 Mrd. als weltweite Nummer 6.

Rund 60% der Exporte der Schweizer Chemie gehen in die EU, wo sie zudem zahlreiche Produktions-Stätten besitzt.

In der Schweiz ist die Chemie mit rund 65’000 Angestellten zweitgrösster Arbeitgeber.

REACH steht für Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals

Der Entwurf muss noch vom EU-Parlament behandelt werden.

Ob die Verordnung je in Kraft tritt ist unsicher.

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