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Aufschlussreiche, aber auch banale Erfolgsgeschichte

April 2009. Ein Teil der britischen Tamiflu-Lagerbestände. Weil sie nicht verwendet wurden, mussten die Medikamente nach sieben Jahren entsorgt werden. Reuters

Das Medikament, das die Welt vor einer Grippe-Pandemie retten sollte, soll nicht viel besser sein als ein Aspirin? Dies besagte internationale Studie letzten Monat. Aufgrund der Summen, um die es geht, scheint der Fall Tamiflu ebenso aussergewöhnlich wie banal, zeigt er doch die Verbindungen auf zwischen jenen, die Medikamente produzieren und jenen, die sie verschreiben.

Dreizehn Milliarden Schweizer Franken: Auf etwa soviel wird der Umsatz beziffert, der mit Tamiflu seit der Markteinführung 1999 bis Anfang 2014 erzielt wurde. Was Tamiflu Roche tatsächlich eingebracht hat, ist nicht in Erfahrung zu bringen.

Der Schweizer Pharmakonzern “publiziert weder seine Produktions-, noch seine Entwicklungskosten”, erklärt Roche-Kommunikationschef Nicolas Dunant. Sicher ist hingegen, dass noch heute ein Teil des Ertrags des Medikaments an das kalifornische Unternehmen fliesst, in dem das Mittel erfunden wurde.

Ab 2004, als Tamiflu zum “Star” geworden war, interessierten sich die Medien für die Goldgrube, zu der sich das Medikament für einen gewissen Donald Rumsfeld, damals US-Verteidigungsminister unter Präsident George W. Bush, entwickeln könnte. Zwischen 1997 und seiner Nomination zum Chef des Pentagons 2001 war er Präsident von Gilead.

Nach seinem Eintritt in die Regierung hatte Rumsfeld bei Gilead zwar persönlich keine Entscheide mehr gefällt, aber ein ansehnliches Aktienpaket behalten. Nach Angaben von CNN belief sich dieses auf 5 bis 25 Mio. Dollar, sein persönliches Vermögen war nach CNN-Schätzungen vom Oktober 2005 dank Tamiflu um mindestens eine Million Dollar gewachsen.

Der US-Nachrichtensender verwies zudem darauf, dass auch andere Schwergewichte der Republikaner grosse Interessen bei Gilead hatten. Von einem Republikaner in San Francisco wurde Gilead als das “politisch am besten vernetzte Biotech-Unternehmen” bezeichnet.

Für Rumsfeld war dies zudem keine Premiere. In den 1970er-Jahren hatte er der Regierung Ford angehört, 1981 war er Präsident des Searle-Konzerns (Hersteller von Aspartam), als die FDA (US-Arzneimittelbehörde) entschied, diesen sehr umstrittenen Süssstoff für den amerikanischen Markt zuzulassen. Eine geschickte Lobbyarbeit, welche die Familie Searle mit einem Beitrag in Höhe von 12 Mio. Dollar belohnte, wie die Chicago Tribune 1985 enthüllte.

1996 erwarb Roche von Gilead die Lizenz für das Oseltamivir-Phosphat, ein Molekül mit antiviralen Eigenschaften, das, ausgehend von Sternanis, in einem komplizierten Verfahren chemischer Reaktionen produziert wird. Roche zahlte Gilead 50 Mio. Dollar, dazu kam eine Gewinnbeteiligung, die je nach Umsatz des künftigen Produkts zwischen 14 und 22% liegen sollte.

Doch der Markteinstieg verlief harzig, und es kam zu einem Konflikt um die Vereinbarungen, der bis 2005 andauern sollte. Nicolas Dunant will sich nicht im Detail zu “einer rechtlich ziemlich komplizierten Frage” äussern, weist aber darauf hin, dass ein Grund für den Rechtsstreit die anfänglich schwachen Absatzzahlen gewesen seien.

Die Pandemiewarnungen wegen der Vogelgrippe zwischen 2004 und 2007 und wegen der Schweinegrippe 2009-2010, die Besessenheit von Regierungen, Tamiflu zu lagern, das unterdessen zum Wundermittel befördert worden war und auf der Liste der wesentlichen Medikamente der Weltgesundheits-Organisation (WHO) figurierte, trugen alle dazu bei, Verschwörungstheorien zu schüren.

Die Wahnhaftesten sprachen von Pandemien, die erfunden worden seien, um die Gewinne von Roche (und Gilead) zu steigern. Zumal, weil letzten Endes die angekündigten Katastrophen nur einige Hunderte Tote nach sich zogen, viel weniger als saisonale Grippen normalerweise.

Wirksam?

“Dennoch, das waren tatsächlich Ansätze von Epidemien, die dann einfach nicht voll ausgebrochen sind. Wir hatten Glück”, erklärt der Arzt Bertrand Kiefer, Chefredaktor der Revue Médicale Suisse. “Im Nachhinein kann man sagen, man habe umsonst Alarm geschlagen, aber ernsthafte Virologen bleiben überzeugt, dass eine ernsthafte Gefahr bestand, dass das Risiko in jenen Momenten sehr schwierig abzuschätzen war und wir nur knapp daran vorbeigekommen sind.”

Doch hätte Tamiflu im Fall einer Pandemie wirklich geholfen? Die WHO ist überzeugt: “Wir haben die Resultate von 78 Studien, mit denen während der Schweinegrippe mehr als 29’000 Patienten in 38 Ländern erfasst wurden”, erklärt WHO-Sprecher Gregory Härtl in Genf, dem Sitz der Organisation.

“Wir haben gesehen, dass die Sterblichkeitsrate bei den Personen, die einen Neuraminidase-Hemmer (die Klasse, zu der Tamiflu und Relenza, ein Mittel von GlaxoSmithKline, gehören; die Red.) weniger als 48 Stunden nach der Ansteckung einnahmen, um 25% niedriger lag. Dies lässt darauf schliessen, dass diese Medikamente sehr wirksam sind gegen nicht-typische Grippen.”

Auch wenn er zugibt, er sei “der erste gewesen, der glaubte, dass Tamiflu wirksam war, vor allem um schwere Komplikationen bei der Grippe zu verhindern”, ist Bertrand Kiefer heute aufgrund der neuen Daten der Ansicht, dass das Mittel von Roche “nicht wirklich nützlich ist, während es nicht wenige, ihrerseits ernsthafte, Nebenwirkungen” habe.

Grippe-ähnliche Zustände können durch verschiedenste Viren hervorgerufen werden, die Fieber und andere Symptome hervorrufen, die oft als Symptome einer Grippe gesehen werden, auch wenn sie es nicht sind.

Die saisonale Grippe tritt im Winter auf. Das ist die “echte” Grippe, ausgelöst vom Influenza-Virus, das sich häufig verändert (mutiert). Das Virus hat während mehreren Tagen ernsthafte Auswirkungen auf den Körper. Vor allem Kinder, geschwächte oder ältere Menschen können daran sterben.

Eine Pandemie wird charakterisiert durch das Auftreten eines neuen Virenstamms, der sehr ansteckend ist und vor dem die Menschen nicht geschützt sind. Er befällt grosse Gebiete der Welt oder die ganze Welt. Im 20. Jahrhundert gab es drei Pandemien: Die spanische Grippe (1918-1919 mit 50 bis 100 Millionen Toten), die asiatische Grippe (1957 mit 1 bis 4 Millionen Toten) und die Hongkong-Grippe (1968, 1 bis 2 Millionen Tote).

Die Impfung bleibt das wirksamste Mittel gegen die Grippe, empfohlen von der Ärzteschaft, nationalen Gesundheitsämtern und der WHO. Wer an Grippe erkrankt, muss sich vor allem ausruhen und versuchen, das Fieber unter Kontrolle zu kriegen; danach muss auf mögliche Komplikationen geachtet werden, vor allem auf Lungenentzündung.

Krieg der Daten

Am vergangenen 10. April hat die Cochrane Collaboration (ein unabhängiges Netzwerk von 24’000 Ärzten und Gesundheitsfachleuten in mehr als 120 Ländern) im British Medical Journal die nach ihren eigenen Angaben “fundierteste und umfassendste Überprüfung der Neuraminidase-Hemmer” veröffentlicht.

Das Urteil ist gnadenlos: “Tamiflu verkürzt die Symptome einer Grippe um einen halben Tag, aber es gibt keine überzeugenden Beweise, dass es Hospitalisierungen oder Komplikationen verringert.”

Was die Nebenwirkungen angeht, rechnete die britische Tageszeitung The Guardian vor: “Gibt man Tamiflu einer Million Menschen, werden 45’000 erbrechen, 31’000 Kopfschmerzen kriegen und 11’000 psychiatrische Probleme bekommen.”

“Und erinnern Sie sich”, fügt die Zeitung mit typisch britischem Humor hinzu, “wir haben [Tamiflu] für 80% der Bevölkerung gelagert. Das ergäbe eine ganze Menge Erbrochenes.”

Bevor es zu seinem Fazit kam, hatte das Cochrane-Netzwerk alle verfügbaren Daten zu Tamiflu unter die Lupe genommen, inklusive Daten von Roche, auf die das Forscher-Netzwerk vier Jahre gewartet hatte.

Wieso vier Jahre? “Das war eine ganz neuartige Anfrage. Man kann diese Daten nicht einfach an irgendwen übermitteln, es stellen sich Fragen zum Datenschutz”, erklärt Nicolas Dunant. Und fügt hinzu, der Konzern habe unterdessen seine Politik zur Dateneinsicht modifiziert, und Anfragen dieser Art würden nun einem Komitee unabhängiger Experten anvertraut.

Cochrane hat aber für seine Überprüfungen nicht alle Daten verwendet. “Sie haben einige der ganz von Roche finanzierten Studien nicht genutzt”, erklärt Bertrand Kiefer. Studien, bei denen – sollte dies verwunderlich sein? – Tamiflu am besten abschnitt.

“Diese Studien genügten den Normen nicht”, fügt der Arzt hinzu. “Zum Beispiel wurde bekräftigt, das Medikament verbessere den Zustand der Lunge, aber allein auf der Basis von Patienten-Fragebogen, ohne dass eine Röntgenaufnahme gemacht wurde. Oder bei anderen Studien hatten Tamiflu und ein Placebo unterschiedliche Farben, was nicht zulässig ist.”

Roche nutzt die Tatsache, dass einige der Studien fallengelassen wurden, als Argument, um die Schlussfolgerungen des Cochrane-Netzwerks als Ganzes zurückzuweisen. “Was für uns wirklich zählt, ist nicht Cochrane, sondern das Verdikt der weltweit 100 Arzneimittel-Zulassungsstellen sowie der WHO, die Tamiflu alle empfehlen”, fasst Roche-Kommunikationschef Dunant zusammen.

Einflüsse

Bertrand Kiefer ist genau gegenteiliger Meinung. Für ihn ist die “Cochrane Collaboration eine der seriösesten wissenschaftlichen Kapazitäten weltweit”. Man sollte dem Netzwerk daher “mehr vertrauen, als den nationalen Arzneimittel-Zulassungsbehörden”.

Und wie sieht es mit der WHO aus? Ist sie wirklich so standhaft Einflüssen gegenüber, wie es die Instanz sein müsste, deren Aufgabe es ist, über die Gesundheit weltweit zu wachen? Am Sitz der Organisation verneint man, dass Roche irgendeine Form von Lobbyarbeit zugunsten von Tamiflu habe ausüben können. Und der Multi in Basel bestreitet es ebenso klar und deutlich.

“Ich denke es gibt keine Beweise, dass die WHO direktem Lobbying durch Roche ausgesetzt war”, schätzt Bertrand Kiefer. Das Problem sei aber, dass es nicht genügend wirklich unabhängige Experten gebe. “Denn alle erhalten persönlich oder für ihre eigene Forschung Geld von der Pharmaindustrie. Und bei der WHO fehlt es an Transparenz. Die WHO sagt zwar, sie habe eine Liste, auf der alle Interessenskonflikte ihrer Experten, die Gelder, die diese erhielten, Kongresse, an denen sie teilgenommen hätten etc., aufgeführt seien. Doch bisher weigert sich die WHO, diese Liste zu veröffentlichen.”

Tamiflu soll auch kein Einzelfall sein. Probleme mit der Evaluierung der Wirksamkeit von Medikamenten sind in der Branche gang und gäbe. Aussergewöhnlich in diesem Fall ist – neben den riesigen Summen, um die es geht – die Tatsache, dass der “Löwenanteil der Tamiflu-Lagerbestände nicht verwendet wurde. Man konnte daher nicht sehen, was geschieht, und auch keine Bilanz ziehen. Dazu kam, dass es auch fast einen Moment der Panik gab, in der man Regierungen sagte, ‘wenn Sie jetzt nicht sofort kaufen, wird es keines mehr geben’. Dies liess nicht wirklich genügend Zeit, die Dinge in Ruhe zu bewerten.”

Ende einer “Karriere”

Zwischen 2016 und 2017 wird Tamiflu zum Gemeingut werden, was die Möglichkeit zur Produktion allfälliger Generika eröffnet. Macht sich Roche deshalb Sorgen? “Nein, denn es ist etwas, was auf lange Sicht absehbar war. Und zudem machte Tamiflu im letzten Jahr nur gerade 1% unseres Gesamtumsatzes aus”, antwortet Nicolas Dunant.

Bertrand Kiefer sieht seinerseits überhaupt keine Zukunft für das Oseltamivir-Phosphat, unter welcher Marke es auch immer verkauft würde. Im Gegenteil, er hofft, “dass die Forschung vorankommen wird, denn es gibt keinen Grund, weshalb man kein wirksames Mittel gegen die Grippe finden sollte”.

SRF Tagesschau vom 10.04.2014 – “Tamiflu taugt nichts”

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(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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