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Tschernobyl belastet immer noch Nahrungskette

Wilschweine: Bei Konsumenten immer beliebter, doch ihr Speisezettel ist radioaktiv belastet. Keystone

Wildschweine stehen auf Hirschtrüffel und fressen sie in rauen Mengen. Mit Folgen: Die Tiere weisen in bestimmten Regionen der Schweiz eine hohe Belastung an Cäsium auf, das vom Tschernobyl-Unglück 1986 stammt.

Im Tessin wird der Grenzwert gar um das Fünffache überschritten.

Bei Routinekontrollen von Fleischproben aus dem Tessin stiess das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 2002 auf ein Wildschwein mit einem fünfmal zu hohen Cäsiumwert gegenüber dem erlaubten Grenzwert von 1250 Becquerel (Bq) für Lebensmittel.

Das Tier wurde denn auch vom Kantonsveterinär konfisziert. Der Verdacht lag nahe, dass die Tiere die Radioaktivität mit ihrer Nahrung im Walde aufnehmen.

Strahlender Speisezettel

Hirschtrüffel, die (europaweit) in Waldböden gedeihen, gehören zum Speisezettel der Wildschweine. Anders als die hochbegehrten Speisetrüffel sind die Hirschtrüffel für Menschen ungeniessbar.

Das BAG wandte sich an die Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Birmensdorf. WSL-Pilzfachleute sammelten vergangenen Juni 20 Proben in der ganzen Schweiz.

Die Resultate, die das BAG letzte Woche bekannt machte, lassen aufhorchen: 17 Jahre nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl ist das Isotop Cäsium-137 noch immer in der Umwelt vorhanden.

Höchstwerte im Tessin und in der Ostschweiz



In Proben aus dem Tessin und der Ostschweiz sind die Werte in den Hirschtrüffeln am höchsten: In Malvaglia (Tessin) liegen sie für Tschernobyl-Cäsium-137 bei 15’700 Bq pro Kilo Trockengewicht; dazu addieren sich noch weitere 2300 Bq, die vom Fallout der Atombomben-Versuche zwischen 1960 und 1980 stammen.

Bei Wattwil wurden Werte von 9450 Bq und 3700 Bq gemessen. Laut BAG sind Speisetrüffel nicht Cäsium-belastet.

Westschweiz wenig betroffen

Tiefer liegen die Werte gegen die Westschweiz zu, nämlich insgesamt 2800 Bq in Beatenberg (Bern) und 3400 Bq in Montagny (Freiburg).

Bemerkenswert sei, so sagt Hansruedi Völkle von der Sektion Überwachung der Radioaktivität im BAG, dass die Werte relativ gut mit der Cäsium-Verteilung nach dem Reaktorunfall von 1986 übereinstimmten.

An diesen Tagen hatte es im Tessin und Teilen der Ostschweiz stark geregnet, wodurch mehr von diesem Isotop auf die Erde kam als anderswo. Durch den Niederschlag gelangte das Cäsium (Halbwertszeit: 30 Jahre) in die Nahrungskette.

Abnehmende Belastung



Die Cäsium-Belastung von Speisepilzen nimmt nach Beobachtungen von Hansruedi Völkle allmählich ab.

Dies legten jedenfalls Untersuchungen nahe, die beim Zigeunerpilz im Zeitraum von 1986 bis 2002 in den Gemeinden Gstaad, Bern, (von 800 auf 200 Bq/kg) und Siglistorf, Aargau, (von 1800 auf 700 Bq/kg) durchgeführt worden seien.

Weniger eindeutig ist dagegen die Entwicklung beim Maronenröhrling, wo die Erhebungen in drei Gemeinden (Siglistorf, Ehrendingen, Schneisingen) von 1999 bis 2002 zwischen 500- 50 Bq/kg schwanken. Für Pilzimporte aus Osteuropa wird ein Radioaktivitäts-Zertifikat benötigt.

Cäsium in der obersten Bodenschicht

Die Aufnahme von Cäsium muss nach neuen Erkenntnissen im WSL mit der Bodentiefe zusammenhängen. “Hirschtrüffel können das Cäsium offenbar in besonderem Mass anreichern”, vermutet Pilzfachmann Simon Egli von der WSL.

Die Pilze gedeihen in der obersten Schicht des Waldbodens bis in rund 10 Zentimetern Tiefe. Hier reichert sich Cäsium am meisten an. Das Isotop wandert via Wurzeln auch in die Blätter und Nadeln der Waldbäume.

Trüffel bilden ihre Fruchtkörper zur Winterszeit, wenn der Boden nach dem Blattfall erhöhte Cäsiumwerte aufweist. Bei den Speisepilzen reichern Maronenröhrling und Zigeuner mehr Cäsium an, da ihr Myzel offenbar auch in oberen Schichten gedeiht. Dagegen scheinen Steinpilz und Eierschwamm, die wenig Cäsium kumulieren, ihr Myzel in tieferen Bodenschichten zu haben.

Beliebtes Wildschwein



Wildschwein erfreut sich bei Konsumenten steigender Beliebtheit: Der Abschuss 2002 lag bei zirka 6000 Tieren, 2001 bei zirka 4700. Beim Menschen und bei Säugetieren reichert sich das Cäsium laut Hansruedi Völkle in Muskeln an.

Die Hälfte davon werde indessen bei Erwachsenen in den folgenden 2-3 Monaten wieder ausgeschieden. Im vergangenen Jahr wurden rund 150 Tonnen Wildschwein importiert, vor allem aus Australien, Italien und Österreich.

Mancherorts scheint das Wildschweinfleisch praktisch unbelastet. Das Kantonale Laboratorium Basel-Landschaft hat 2001 neun Wildschwein-Proben auf Gammanuklide untersucht. Der höchste Wert bei acht Proben lag lediglich bei 32 Bq/kg, also immer noch deutlich unter dem Grenzwert von 1250 Bq/kg.

Die Cäsiumwerte liegen bei Hirschen und Rehen allgemein tiefer. Rotwild vertilge viel weniger Hirschtrüffel als Wildschweine, die den Waldboden aufwühlten und dabei auch viel Cäsium-haltige Erdkrumen, Pilze und Wurzeln frässen, meint Hansruedi Völkle vom BAG. Im nahen Ausland wurden in den 1990er Jahren Spitzenwerte von 65’000 Bq pro Kilo bei Wildschweinen gemessen.

swissinfo, Stefan Hartmann

Becquerel (Bq): Mass für Radioaktivität

Die Radioaktivität der Hirschtrüffel stimmt mit der Cäsium-Verteilung nach dem Tschernobyl-Reaktorunfall von 1986 überein (siehe Link Karte).

Am höchsten ist die Radioaktivität im Tessin und in der Ostschweiz, weniger betroffen ist die Westschweiz.

Die Aufnahme von Cäsium hängt mit der Bodentiefe zusammen.

Die Pilze gedeihen in der obersten Schicht des Waldbodens bis in rund 10 Zentimetern Tiefe. Hier reichert sich Cäsium am meisten an.

Das Isotop wandert via Wurzeln auch in die Blätter und Nadeln der Waldbäume.

Trüffel bilden ihre Fruchtkörper zur Winterszeit, wenn der Boden nach dem Blattfall erhöhte Cäsiumwerte aufweist.

Bei den Speisepilzen reichern Maronenröhrling und Zigeuner mehr Cäsium an, Steinpilz und Eierschwamm hingegen kumulieren weniger Cäsium.

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