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“Von Kalifornien können wir lernen, wie man die Bevölkerung fürs Klima gewinnt”

Simonetta Sommaruga
Die Schweizer Umweltministerin Simonetta Sommaruga beim virtuellen Arbeitstreffen Bern - Kalifornien. Keystone / Anthony Anex

Die Schweizer Umweltministerin Simonetta Sommaruga hat erstmals einen diplomatischen Besuch virtuell abgestattet. Wie wird die Digitalisierung die Diplomatie verändern? Darüber und über das gescheiterte CO2-Gesetz haben wir mit ihr gesprochen.

swissinfo.ch: Frau Bundesrätin Sommaruga, Sie absolvieren erstmals ein Arbeitstreffen digital, um ihr Konzept der klimafreundlichen Besuche zu testen. Wie war es bisher? 

Simonetta Sommaruga: Ich bin begeistert! Ich war in einem Nationalpark in Kalifornien und hatte das Gefühl, direkt vor Ort zu sein. Mit einer virtuellen Reise spart man viel Zeit und CO2. Das Potenzial ist gross.

Würden Sie auch schwierige Gespräche auf diese Weise führen?

Natürlich gibt es Grenzen. Solche virtuellen Reisen können physische Begegnungen nicht ersetzen. Gerade ein vertrauliches Gespräch unter vier Augen ist in dieser Form nicht möglich, und wenn man Konflikte hat, möchte man sich ohne Bildschirm dazwischen treffen.

Wie wird die Digitalisierung die diplomatische Welt verändern?

Die digitale Diplomatie kann eine breitere Partizipation ermöglichen.

Ich habe das bei der laufenden Vorbereitung für die nächste Weltklimakonferenz mit mehreren Umweltministerinnen und UNO-Vertretern besprochen: Wenn auch die Vorbereitungsarbeiten vor Verhandlungen digital stattfinden, dann können Länder teilnehmen, für die es sonst aus Ressourcengründen schwierig ist, an den Tagungsort zu reisen.

Die UNO hat immer wieder angeboten, für die nötige Infrastruktur Unterstützung zu leisten.

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An einem vom Schweizer Konsulat in San Francisco veranstalteten Runden Tisch über die Auswirkungen des Klimawandels auf Weinregionen nahmen neben Sommaruga auch Klimaexpertinnen, Winzer und die kalifornische Feuerschutzbehörde teil. Schweizer Generalkonsulat in San Francisco

Seit der Pandemie sprechen sich einige Diplomatinnen und Diplomaten in Genf für einen hybriden Ansatz – persönlich und virtuell – bei internationalen Treffen aus, auch um die Beteiligung zu erhöhen. Glauben Sie, dass dieser Ansatz für das internationale Genf von Vorteil sein könnte? Und würde die Schweizer Regierung einen solchen Ansatz unterstützen?

Es ist tatsächlich das Ziel des Bundesrates, das internationale Genf in der digitalen Diplomatie zu positionieren und zu stärken. In Genf sollen die neuen Möglichkeiten ausprobiert werden. Wir haben dort viel Kompetenz versammelt.

Das ist ein Vorteil, den wir nun aber auch ins Feld führen und weiterentwickeln müssen. Dann werden wir herausfinden, was funktioniert und wo man besser bei physischen Treffen bleibt oder hybride Möglichkeiten nutzt.

Sie sprachen bei ihrem virtuellen Treffen mit dem Klimaschutz-Pionier Kalifornien über den Klimawandel, kurz nachdem in der Schweiz das CO2-Gesetz abgelehnt wurde. Wurden Sie darauf angesprochen?  

Ich habe selbst davon berichtet. Kalifornien kennt wie wir die direkte Demokratie. Beim Klimaschutz müssen wir die Menschen mitnehmen. Wenn sich die Bevölkerung von den Massnahmen bestraft oder eingeschränkt fühlt, gewinnt man keine Volksabstimmung. Meine Gesprächspartner in Kalifornien sind überzeugt, dass es manchmal mehrere Anläufe braucht. Diese Erfahrung haben wir in der Schweiz auch gemacht.

Haben Sie von anderen Ländern Reaktionen erhalten? Gibt es Bedenken, dass die Schweiz ihre Klimaziele nicht erreichen kann?

Ich habe einige Anrufe von Umwelt- und Energieministerinnen und -ministern aus dem Ausland erhalten. Es gibt ein grosses Interesse an der Frage: Warum ist dieses Gesetz gescheitert? Unsere erste Analyse ist: Das Gesetz hat verschiedene Bereiche angegangen und damit auch die Angriffsfläche verbreitert. Wir müssen das Nein nun gründlich analysieren und andere Wege suchen, zusammen mit der Wirtschaft und dem Parlament.

Ihr Kollege Ignazio Cassis hat eine Beteiligung der Schweiz am europäischen Green Deal in den Raum gestellt, was ja eigentlich Ihre Idee war.

(lacht) Ich habe diese Idee tatsächlich schon vor gut einem Jahr als Bundespräsidentin bei meinem ersten Treffen mit der EU-Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, angesprochen.

Die Idee ist nicht, dass sich die Schweiz finanziell beteiligt. Der Green Deal ist nicht vorwiegend ein finanzielles Projekt, sondern er soll in der EU die Dekarbonisierung und den Klimaschutz verstärken. Ich denke, die Schweiz sollte mit der EU in dieser Frage in einem engen Austausch sein und schauen, wo wir voneinander lernen können. Nachdem nun auch mein Kollege Herr Cassis öffentlich gesagt hat, dass er das zusätzlich unterstützen will, sind wir schon zu zweit im Bundesrat – und das ist gut.

Der Schweizer Finanzplatz ist noch nicht auf die Pariser Klimaziele ausgerichtet. Die EU ist diesbezüglich weiter. Ist das blosses Greenwashing oder muss sich die Schweiz auch in diese Richtung bewegen?

Greenwashing bringt dem Klima überhaupt nichts. Die Schweiz ist ehrgeizig. Der Bundesrat will, dass sie zum führenden Standort für einen nachhaltigen Finanzplatz wird.

Wir haben in der Schweiz einen Klimaverträglichkeitstest entwickelt, darüber wurde international viel gesprochen: Banken, Versicherungen und Pensionskassen können testen lassen, wie nachhaltig und klimaverträglich ihre Investitionen sind. Die EU ist dabei, ein einheitliches Berechnungssystem zu entwickeln.

Unser Finanzplatz ist sehr interessiert zu wissen, was in der EU läuft. Die Transparenz ist entscheidend für das Vertrauen der Bevölkerung und der Investoren. Da wollen wir mit der EU zusammenarbeiten. Es ist ein Standortvorteil, wenn man beim Klimaschutz vorne dabei ist.

Und man kann der Bevölkerung eine Ökologisierung des Finanzplatzes auch besser verkaufen als eine Verteuerung von Benzin und Flugtickets, oder?

Wie gesagt: Für die Wirtschaft ist Klimaschutz ein Wettbewerbsvorteil. Der Bevölkerung hingegen müssen wir aufzeigen, wie und dass wir sie bei einem klimafreundlichen Lebensstil unterstützen.

Nochmals zu Ihrer virtuellen Reise: Warum ausgerechnet Kalifornien?

Kalifornien und die Schweiz sind beides direkte Demokratien mit Volksabstimmungen. Das prägt ein Land. Man entwickelt Veränderungen immer mit der Bevölkerung. Manchmal erlebt man auch Rückschläge, wenn die Bürgerinnen und Bürger etwas nicht akzeptieren, dann muss man Lösungen suchen, die mitgetragen werden. Das ist etwas, was uns verbindet.

Meine Reise nach Kalifornien stellte den Klimaschutz ins Zentrum. Auch Kalifornien ist von der Klimaerwärmung sehr stark betroffen, mit Wald- und Buschbränden und Trockenheit. Das ist bei uns weniger direkt der Fall, aber das wird auf uns zukommen.

Es gibt zudem Schweizer Firmen, die in Kalifornien eine wichtige Rolle spielen, zum Beispiel bei der Elektrifizierung der Bahn. Wir sind also vorne dabei. Auf der Reise besuchte ich zudem ein Weinbaugebiet. Das Thema Klimawandel und Weinbau beschäftigt sowohl die Schweiz als auch Kalifornien, darüber haben wir uns ebenfalls ausgetauscht.

Zwei Menschen am Ufer eines Sees
Teil der virtuellen Reise war der Besuch eines Weinguts in Napa, das einem schweizerisch-amerikanischen Ehepaar gehört und von schwerer Trockenheit und Hitze betroffen ist. Schweizer Generalkonsulat in San Francisco

Welche Bedeutung haben die diplomatischen Beziehungen zu den Bundesstaaten einzelner Länder in der Aussenpolitik der Schweiz?

Auch mit einigen Bundesländern Deutschlands haben wir besondere Beziehungen, insbesondere mit denen, die an die Schweiz angrenzen. Was Kalifornien anbelangt, sollten wir  nicht vergessen: Wäre Kalifornien ein Land, wäre es die fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt. Wir haben Kalifornien für die virtuelle Reise gewählt wegen der direkten Demokratie, dem Fokus auf Innovation und den vielen Gemeinsamkeiten im Klimabereich.

Haben Sie während Ihres Besuchs bestimmte Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels gesehen, die Ihrer Meinung auch in der Schweiz funktionieren könnten?

Ja. Kalifornien baut das ganze Energiesystem um – von fossilen auf erneuerbare Energien. Das macht die Schweiz auch. Wir wollen beide klimaneutral werden, die Schweiz bis 2050, Kalifornien bis 2045. Beim Umbau des Energiesystems und den starken Investitionen in die Photovoltaik können wir von Kalifornien lernen. Zum Beispiel: Wie hat die Regierung die Unterstützung der Bevölkerung gewonnen?

Und was kann Kalifornien von der Schweiz lernen?

Wir haben beim öffentlichen Verkehr viel zu bieten. Bei uns gibt es eine Firma, die elektrische Lastwagen entwickelt. In Kalifornien gibt es dafür Tesla. Wir können also voneinander lernen. 

Simonetta Sommaruga ist am 14. Mai 1960 geboren und in Sins (AG) zusammen mit drei Geschwistern aufgewachsen. Ihr Vater war Werkleiter, die Mutter Hausfrau mit grossem Gemüsegarten.

Nach der Matura liess sie sich am Konservatorium Luzern zur Pianistin ausbilden. Es folgten Aufenthalte im Ausland. Danach führte Simonetta Sommaruga ihre Konzerttätigkeit und pädagogische Arbeit am Konservatorium Fribourg weiter.

Ab 1993 arbeitete sie als Geschäftsführerin der Stiftung für Konsumentenschutz, die sie von 2000 bis 2010 präsidierte. Zwischen 1997 und 2005 war sie als Gemeinderätin in Köniz für die Feuerwehr und den Zivilschutz zuständig, von 1999 bis 2003 war sie Nationalrätin. Ab 2003 bis 2010 vertrat sie den Kanton Bern im Ständerat.

Am 22. September 2010 erfolgte die Wahl in den Bundesrat. Von 2010 bis Ende 2018 stand sie dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement EJPD vor, seit dem 1. Januar 2019 ist Simonetta Sommaruga Vorsteherin des Eidgenössischen Departementes für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK.

Im Dezember 2019 wählte die Vereinigte Bundesversammlung Simonetta Sommaruga zur Bundespräsidentin. Damit stand Simonetta Sommaruga 2020 dem Bundesrat zum zweiten Mal nach 2015 vor.

Simonetta Sommaruga ist mit dem Schriftsteller Lukas Hartmann verheiratet. Ihre Freizeit verbringt sie im Winter am liebsten am Klavier und beim Lesen von Belletristik, im Sommer im Garten und beim Wandern.

Quelle: UVEKExterner Link

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