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Schweizer Modell könnte Bürgerkrieg in Nahost verhindern

Siedlungsgebiet in der Dämmerung
Ma’ale Adumim ist die drittgrösste Siedlung im Westjordanland. Jüdische Siedlungen sind auch bei Nacht gut zu erkennen, weil sie deutlich besser beleuchtet sind als palästinensische Dörfer und Städte. Meinrad Schade

Ausschreitungen, israelische Luftangriffe und Raketen aus dem Gazastreifen: Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern eskaliert. Ein föderalistischer Bundesstaat nach Schweizer Vorbild statt einer Zweistaatenlösung könnte einen Bürgerkrieg verhindern.

Wie die Uno und die EU setzt sich auch die Schweiz offiziellExterner Link für eine Zweistaatenlösung im israelisch-palästinensischen Konflikt ein. Dabei ist diese aufgrund der jüdischen Siedlungen im Westjordanland geografisch kaum noch umsetzbar.

Der Konflikt zwischen Israel und Palästinensern eskaliert wieder einmal. Die Hamas schiesst mit Raketen auf Tel Aviv. Die israelische Armee fliegt Luftangriffe gegen Ziele im Gazastreifen. Auf beiden Seiten gab es Todesopfer und Verletzte.

Angesichts der zunehmend entfesselten Gewalt soll der UNO-Sicherheitsrat zum zweiten Mal binnen weniger Tage zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen. Die Beratungen sind für Mittwochvormittag in New York geplant.

Quelle: SRF

Animierte Grafik, welche die Ausbreitung israelischer Siedlungen im Westjordanland zeigt.
Outposts sind Siedlungen, die auch nach isreaelischem Recht illegal sind. Jonas Glatthard / swissinfo.ch

Nicht nur das, die Zweistaatenlösung ist auch brandgefährlich: Weil sie Umsiedlungen bedingen würde, wäre ein Bürgerkrieg programmiert.

Dies zumindest sagt der in Tel Aviv geborene deutsche Historiker und Publizist Michael WolffsohnExterner Link. “Eine Zweistaatenlösung ist nur zum Preis von Blutvergiessen zu haben”, ist er überzeugt. “Eine Rücksiedlung der jüdischen Siedler im Westjordanland würde einen innerjüdischen Bürgerkrieg auslösen. Gleiches gälte für eine Umsiedelung palästinensisch-arabischer Israelis aus Israel.”

Wolffsohn stammt aus einer jüdischen Familie, die 1939 aus Deutschland nach Palästina geflüchtet ist. Als Doppelbürger leistete er von 1967 bis 1970 Militärdienst in der israelischen Armee und wurde unter anderem in den Palästinensischen Gebieten eingesetzt.

Grafik
Kai Reusser / swissinfo.ch

Laut Wolffsohn ist die einzig denkbare friedliche Alternative eine föderalistische Lösung. “Wir brauchen Friedenslösungen, keine Kriegsszenarien, die Gerechtigkeit herstellen sollen.” Aus der Geschichte der Schweiz könne man dabei lernen.

Israel-Palästina-Jordanien als Staatenbund

1847 herrschte in der Schweiz Bürgerkrieg zwischen liberalen-protestantischen und konservativ-katholischen Bevölkerungsgruppen. Nur dank dem Föderalismus mit einem Kräfteausgleich zwischen den Regionen – die sich kulturell, sprachlich und religiös unterscheiden – konnte dauerhaft Frieden geschlossen werden.

Das Prinzip “Frieden durch Föderalismus” möchte Wolffsohn auch auf heutige ethnische Konflikte übertragen. In seinem Buch “Zum WeltfriedenExterner Link” skizziert er unter anderem einen möglichen Staatenbund “Israel-Palästina-Jordanien”.

Im Unterschied zur Schweiz solle dieser Föderalismus aber nicht territorial ausgestaltet werden. “Vor allem im Norden Israels gleicht das demografische Muster einem Flickenteppich”, erklärt Wolffsohn. “Territoriale Bundesländer oder Kantone scheiden hier als Möglichkeit aus.” Vielmehr solle das Selbstbestimmungsrecht personengruppenbezogen beziehungsweise personal ausgestaltet werden.

Siedlungen
Kai Reusser / swissinfo.ch

Sprich: Israelis und Palästinenser könnten ihre inneren Angelegenheiten selbst regeln und politische Vertreter wählen. Nur die Aussenpolitik und das Militär würden zentral bleiben.

Vier Völker, Sprachen und Kulturen

Auch der Schweizer Jurist Sami AldeebExterner Link propagiert statt der Zweistaatenlösung einen föderalen israelisch-palästinensischen Staat nach Schweizer Vorbild. “Alle reden von der Zweistaatenlösung, aber wohin sollte man diese zwei Staaten stellen?”

Aldeeb wurde im Westjordanland in eine christlich-palästinensische Familie geboren. Heute betreibt er das Zentrum für arabisches und islamisches Recht in Saint-Sulpice und lehrt an Universitäten in der Schweiz, Frankreich und Italien.

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Auf das Argument, Israelis und Palästinenser seien zwei Völker, meint Aldeeb: “Die Schweiz hat vier Völker, vier Sprachen und vier Kulturen.” Laut Aldeeb müsste der Staat zwingend laizistisch sein und alle Bürgerinnen und Bürger gleichbehandeln. Mit anderen Worten: Israel wäre kein jüdischer Staat mehr, sondern Staat und Religion wären strikt getrennt. Zudem müssten laut Aldeeb die 1948 und 1967 vertriebenen palästinensischen Flüchtlinge ein Recht auf Rückkehr haben.

Auch die Konkordanz abgucken

Der Konfliktforscher Andreas JuonExterner Link von der ETH Zürich warnt allerdings, dass in gewissen Situationen der Föderalismus allein nicht genügt, wie Forschungsergebnisse zeigten. Besonders wenn ein Konflikt zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen bereits ausgebrochen sei und daher grosses Misstrauen zwischen ihnen herrsche, was in Israel der Fall sei.

“In solchen Fällen kann die garantierte Einbindung der verschiedenen Gruppen in die Zentralregierung helfen, wiederkehrende Konflikte zu verhindern”, sagt Juon. Mit anderen Worten: Eine Einstaatenlösung in Israel-Palästina müsse von der Schweiz nicht nur den Föderalismus abschauen, sondern auch die Konkordanz in der Zentralregierung.

Die Schweiz ist bekannt dafür, dass in der Politik unablässig Kompromisse zwischen den Parteien und den verschiedenen sprachlichen und kulturellen Bevölkerungsgruppen gesucht werden. Die Regierung beispielsweise besteht aus sieben Bundesräten unterschiedlicher Parteien und Sprachen.

Wie realistisch wäre eine solche Lösung?

Doch wollen Israelis und Palästinenser überhaupt einen gemeinsamen föderalen Staat nach Schweizer Vorbild? Oder anders gefragt: Wie realistisch ist der Vorschlag?

Auf Anfrage von swissinfo.ch schreibt der israelische Botschafter in der Schweiz, Jacob Keidar: “Was für ein Land geeignet ist, ist für ein anderes nicht immer machbar.” Jedes Land habe seine eigenen äusseren und inneren Umstände, seine Politik, seine Grösse, seine gesellschaftliche Zusammensetzung und seine Geschichte. Der einzige Weg nach vorne sei eine Rückkehr an den Verhandlungstisch.

Der Botschafter verweist aber auf ein Interview, das der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu im Januar 2018 am WEF in Davos gegeben hat.  Er sagte damals:

“Die Palästinenser sollten alle Befugnisse haben, sich selbst zu regieren, aber keine Befugnisse, uns zu bedrohen. Was bedeutet, dass in jeder politischen Vereinbarung Israel die übergeordnete Sicherheitskontrolle über das winzige Gebiet westlich des Jordans bis zum Mittelmeer behalten muss (…) Israel wird die übergeordnete Sicherheitskontrolle behalten, aber ansonsten werden die Palästinenser frei sein, sich selbst zu regieren (…) Sie können in ihrer eigenen Sphäre leben, sich selbst regieren, mit ihren eigenen Befugnissen, ihrem eigenen Parlament, ihrer eigenen Flagge, ihren eigenen Botschaften, was auch immer, dem ganzen Drumherum, ausser den Befugnissen, die wir brauchen, um uns zu schützen (…)”

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Auch wenn Israel einer föderalen Lösung nicht abgeneigt scheint, will es doch die alleinige Kontrolle über die Armee behalten – alles andere ist dem Land zu gefährlich. Ein gleichberechtigter föderaler Staat ist so aber nicht möglich, was wiederum die Akzeptanz bei den Palästinensern schwächen dürfte.

Geri Müller, Präsident der “Gesellschaft Schweiz Palästina”, hält es für unwahrscheinlich, dass die Palästinenser einer solchen Machtasymmetrie zustimmen würden. Ein Zusammenschluss der beiden Teilstaaten käme nur bei gleichen Rechten und Pflichten in Frage. “Die militärische Präsenz der Israelis ist für Palästinenser heute schon unerträglich.”

Auch in der Schweiz hätten sich die Protestanten nach dem Bürgerkrieg 1847 sagen müssen: “Wir haben die Katholiken zwar bezwungen, aber ab jetzt sind sie unsere Genossen. Wir haben eine gemeinsame Armee.” Auch Katholiken hätten dann im Militär aufsteigen können. Ohne diesen Faktor wäre es laut Müller auch in der Schweiz nicht zu einem Frieden gekommen. Er ist wenig optimistisch: “Ohne externen Druck wird es in Israel noch Generationen dauern, bis eine gleichberechtigte föderale Lösung umgesetzt werden kann.”

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Das sieht Palästina-Kenner Carlo Sommaruga ähnlich: “Solange Israel allein das Militär kontrolliert, das zudem auch noch polizeiliche Aufgaben übernimmt, ist ein föderales Israel-Palästina für die Palästinenser ein No Go.” Denn durch die einseitige Kontrolle der Sicherheit würde de facto die Besatzung durch die Israelis weiterbestehen.

Schweiz hält an Zweistaatenlösung fest

Doch zurück zu einer anderen Frage: Wenn die Zweistaatenlösung Krieg bedeutet, warum halten die Uno, die EU und die Schweiz an der Idee fest? “Alle denken in nationalstaatlichen Kategorien, obwohl Pseudo-Nationalstaaten weltweit und vor allem in den postkolonialen Kunststaaten, doch auch in Europa – man denke an Spanien oder das Vereinigte Königreich – zerbröseln oder interne und zwischenstaatliche Konflikte auslösen”, beklagt der Historiker Wolffsohn.

Das schweizerische Aussendepartement schreibt auf Anfrage: “Die Schweiz ist der Ansicht, dass es derzeit keine realistischen Alternativen zu einer Zweistaatenlösung gibt, die mit dem Völkerrecht und den Resolutionen des Uno-Sicherheitsrats vereinbar wären.” Die Schweiz setze sich deshalb wie die gesamte internationale Gemeinschaft weiterhin für die Zweistaatenlösung ein.

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