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Wenn Schweizer Pragmatismus indische “Jugaad” trifft

In Indien ist vieles etwas anders. Auch das Geschäften. Keystone

Welcher Termin ist aus religiösen Gründen ideal, um eine Fabrik zu eröffnen? Soll eine unverheiratete einer verheirateten Person als Chef vorgezogen werden? Dies sind nur zwei von zahlreichen kulturellen Fragen, die sich Schweizer Firmen in Indien stellen müssen.

Trotz einer kurzzeitigen Verlangsamung hat sich die indische Wirtschaft für Schweizer Unternehmen als sehr fruchtbar erwiesen. Exporte und Direktinvestitionen haben seit dem Jahrtausendwechsel massiv zugenommen. Doch jeder ausländische Markt bietet neben den Möglichkeiten auch zahlreiche Fettnäpfchen.

“Indien ist eines der aufregendsten, aber auch komplexesten und anspruchsvollsten Länder, in denen wir gearbeitet haben”, sagt Conrad Sonderegger, Verkaufsdirektor bei der Schweizer Sensoren- und Messsystem-Firma Kistler.

Eine der grössten Herausforderungen ist die Entschlüsselung der vielschichtigen, alles durchdringenden Kultur Indiens. Ab und zu reibt sich die indische Gesellschaft an der disziplinierten, strukturierten Schweizer Geschäftsethik der Perfektion.

Der freie indische Geist der Improvisation, die Philosophie der “laufenden Entwicklung”, ist eingerahmt in undurchdringbare Familien- und Gesellschaftsstrukturen. Was die Dinge für den Zürcher Manager – an pünktliche Schweizer Züge gewöhnt – noch komplizierter macht: Jede indische Region hat ihre eigene kulturelle Färbung. Man muss innerhalb eines Landes quasi verschiedenste Länder kennen.

Verkaufsmuster

Laut Waseem Hussain, Generaldirektor der Zürcher Beratungsfirma Marwas, verspricht ein indischer Verkäufer typischerweise bereits beim ersten Treffen, alle Probleme des potenziellen Kunden zu lösen. Marwas berät Schweizer und indische Unternehmen, die im jeweils anderen Markt Fuss fassen wollen.

Der Verkäufer wisse zwar, dass dies mit den gegenwärtigen Werkzeugen seiner Firma nicht bewerkstelligt werden könne, doch vertraue dieser voll und ganz darauf, dass seine Kollegen eine Lösung für die neue Herausforderung finden würden.

Die Zürcher Beratungsfirma Marwas führte eine Umfrage durch, was indische Angestellte von Schweizer Firmen über ihre Kollegen in der Schweiz denken.

Während einige Kommentare positiv waren, zeigten andere, dass noch einiges an Hausaufgaben gelöst werden muss, um den kulturellen Graben zu verkleinern.

Einige Antworten:

“Die Praxis unserer Kollegen in der Schweiz ist stark auf Arbeitsabläufe fokussiert, während wir das Gewicht mehr auf Problemlösungen legen.”

“Nicht einmal die kleinsten Fehler bleiben unseren Schweizer Kollegen verborgen. Das sichert die höchste Qualität. Dies könnten wir in Indien auch lernen.”

“Die Schweizer glauben, ihr Ansatz zur Problemlösung sei die einzige Möglichkeit. Unsere Lösungen werden ignoriert, was frustrierend ist.”

“Während Inder zufrieden sind, wenn eine technische Lösung recht gut funktioniert, verlangen die Schweizer Perfektion. Es wäre besser, wenn wir diese Haltung in Indien übernehmen würden.”

“Am Telefon sind sie immer freundlich, doch ihre Emails sind oft grob.”

“Unsere Schweizer Kollegen verlangen, dass alle technischen Spezifikationen bis ins kleinste Detail beschrieben werden. Wir finden das manchmal etwas ermüdend, doch wir haben gemerkt, dass dies nötig ist, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren.”

“Inder können ziemlich irritiert sein, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Schweizer Kollegen sie kühl behandeln.”

“Es gibt immer noch relativ wenig Inder, die ausgedehnte Auslandreisen gemacht haben. Indische Manager und Ingenieure realisieren erst langsam, dass sie einen regelrechten Lernprozess durchmachen müssen, um herauszufinden, wie der Schweizer Verstand wirklich funktioniert.”

“Der Verkäufer will seinen Kunden nicht täuschen, er wendet lediglich das alte Prinzip der ‘Jugaad’ an”, so Hussain. “Das Wort leitet sich ab aus ‘Zauber’ und bezeichnet die indische Kunst der Improvisation.”

In einem Katz-und-Maus-Spiel wird nun der Kunde über mehrere Treffen hinweg vom Verkäufer herauszufinden versuchen, was realistisch angeboten werden kann. Doch immer noch wird er erwarten, dass der Auftragnehmer eine Reihe von Aufgaben anpacken wird.

Dieser Zugang steht in krassem Kontrast zum Schweizer Ansatz, ein spezifisches Bedürfnis eines potenziellen Kunden einzugrenzen und schliesslich ein Nischenprodukt anzubieten, das den Job besser als alles andere erledigen kann.

“Kunden fragen oft nach der technischen Präsentation eines Produktes: ‘Was könnt Ihr sonst noch?'”, sagt Sonderegger. “Geschäfte machen in Indien bedeutet auch, viel mehr Sitzungen abzuhalten, als wir uns das in der Schweiz gewohnt sind.”

Die Besten für den Job

In einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft ist aber genauso wichtig zu wissen, mit wem man sprechen muss. Jeder hütet eifersüchtig sein Gärtchen und ist beleidigt, wenn ein Untergebener oder möglicher Rivale zuerst kontaktiert wird. In Familien-Unternehmen ist es beispielsweise immer der Vater oder der älteste Sohn, der die Entscheide trifft.

Um die sozialen und kulturellen Codes zu knacken, sei es zentral, die richtigen lokalen Angestellten zu finden, sagt William Christensen, Leiter internationaler Verkauf beim Schweizer Sanitärprodukte-Spezialisten Geberit.

“Wir suchen Personen mit lokalen Kenntnissen, welche die Region und die Geschäftsdynamiken kennen”, sagt er. “Gleichzeitig aber müssen sie genügend weit weg von der lokalen Infrastruktur entfernt sein, um das westliche Wertesystem zu verstehen.”

Während der Trainingsphase würden Neuangestellte oft zu Einsätzen in die Schweiz geholt, um ihnen in die Werte des Unternehmens einzuimpfen. Andererseits schicke Geberit so oft wie möglich Schweizer Angestellte nach Indien.

“Wenn ein indischer Angestellter, der nicht oft im Ausland war, einen Schweizer Kollegen sieht, der wie er isst und mit dem Zug zur Arbeit pendelt, weiss er, dass sein Kollege sein Bestes versucht, sich seinem Denken anzupassen”, so Christensen.

Dann werde es einfacher, indischen Angestellten schweizerische Arbeitsethik einzuimpfen, mit etwas Spielraum für Kompromisse und Rücksicht auf lokale Denkweisen.

“Die indische Geschäftskultur ist kurzfristiger orientiert als die schweizerische und geht mit der Einhaltung von Terminen etwas lockerer um”, sagt er. “Wir müssen klare, kurzfristige Ziele setzen und sie mit einem mehr spielerischen Zugang steuern.”

Eheglück

Angestellte in Indien zu führen, verlangt von den Schweizer Chefs auch viel Geduld und kulturelles Verständnis. Sogar kleine, unbeabsichtigte Fehler könnten zu Probleme führen, sagt Waseem Hussain.

“Schweizer Unternehmen stellen gerne junge Hochschulabsolventen in ihren frühen 20er-Jahren an, die noch nicht gelernt haben, selbständig zu denken”, sagt er.

“In Indien gilt ein Mann erst dann als erwachsen, wenn er geheiratet hat. Erst dann wird er sich selber in der Lage fühlen, Entscheide zu fällen. Ein Verheirateter wird Mühe haben mit einem unverheirateten Chef, und der Alleinstehende könnte durch diese unorthodoxe Situation eingeschüchtert sein.”

Laut Philippe Reich, Indien-Spezialist bei der Zürcher Firma Baker & Mckenzie, ist es zentral, viel Zeit in die Belegschaft zu investieren. “Man muss sich bewusst sein, was man will und warum. Und man muss eher mittel- bis langfristig denken statt kurzfristig, wenn man Geschäfte in Indien macht. Deshalb muss man auch geduldig sein.”

Zudem müsse man im Indiengeschäft nicht nur “Geld investieren, sondern sich auch persönlich engagieren. Oft entstehen Probleme, wenn das Management ohne genügend Aufsicht und Kontrolle delegiert wird”.

Schliesslich kann kein ausländisches Geschäftsabenteuer in Indien Früchte tragen, wenn es das überempfindliche und facettenreiche religiöse Netzwerk ignoriert, welches das Land beherrscht. Während sich kein Unternehmen zu stark in religiöse Angelegenheiten einmischen will, kann etwas Verständnis nie schaden.

“Es ist immer noch so, dass religiöse Überzeugungen eine Rolle dabei spielen können, den besten Moment auszuwählen, um wichtige Geschäftsentscheide zu fällen”, sagt Reich.

“Ich habe dies selber erlebt. Beispielsweise wurde der Termin für die Eröffnung der Filiale einer Schweizer Firma anhand solcher weicher Faktoren festgelegt, statt aufgrund harter Fakten.”

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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