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Wie stellt sich die Schweiz auf die neue Welt ein?

Niall Ferguson, Bestseller-Autor und Spezialist für Finanzgeschichte, am Swiss Economic Forum in Interlaken. Keystone

Eigentlich denkt Historiker Niall Ferguson in Jahrhunderten. Wendet er sich aber an Unternehmer, wie am Swiss Economic Forum, beschränkt er sich aufs Heute und Morgen. Schon morgen werde China zur grössten Herausforderung für die Schweiz.

Ob das dominante Frankreich unter Napoleon, das britische Empire oder die Weltmacht USA: Die Schweiz sei es gewohnt, mit dominanten Grossmächten wirtschaftliche Beziehungen zu pflegen.

Doch nun zeichne sich mit Chinas Wachstum eine derart grosse Veränderung in der Konstellation der Weltmächte und der Handelsströme ab, die auch von der Schweiz eine völlig neue Denkweise erfordere, sagte Niall Ferguson am Donnerstag vor Vertretern der mittelständischen Wirtschaft am Swiss Economic Forum (SEF) in Interlaken.

Über die laufende Krise der öffentlichen Verschuldung der EU-Länder und des Euros hinaus versucht der schottische Wirtschaftshistoriker  und Bestseller-Autor dem Westen, und damit auch der Schweiz, klarzumachen, dass die weltweite Dominanz Europas und Nordamerikas nach 500 Jahren nun wirklich am Ende sei. Und zwar nicht nur, was Handel und Finanz, sondern auch was die Werte, sprich Demokratie, Freiheits- und Eigentumsrechte betreffe.

Dass er als Historiker in Jahrhundert-Epochen denkt, unterscheidet Ferguson von anderen prominenten Vordenkern. Er hat aber auch kurzfristig denkenden Politikern und Unternehmern viel zu sagen: “Wer die Konsequenzen dieses Jahrtausend-Wechsels nicht begreift, verpasst auch auf kurze Frist Gelegenheiten, gute Geschäfte zu machen.”

Eine Epoche ist zu Ende

Im 15. Jahrhundert noch seien die elf wichtigen europäischen Monarchien gegenüber China und den muslimischen Reichen unbedeutende Mächte gewesen. Bis 1913 jedoch kontrollierten Europa zusammen mit Amerika direkt fast 60% der Erdmasse und der Erdbevölkerung sowie 80% der weltweiten Wirtschaftsproduktion. Weitere 100 Jahre später, nämlich jetzt, “ändert sich das völlig, weil noch während unserer Lebzeit die schnellste industrielle Revolution, die es je gab, zur Zeit in China im Gange ist.”

Und wenn China derart dominant werde, so Ferguson, könne dies auch für die Schweiz gefährlich werden – “besonders, wenn es Erfolg haben wird, ohne sich zu demokratisieren” und auf Menschen- und Eigentumsrechte achten zu müssen.

Exporteure im Umgang mit kapitalistischen Diktaturen

Besonders nach 1989 habe es viele Leute gegeben, die dachten, dass ab jetzt Kapitalismus und Demokratie automatisch zueinander gehörten. “Doch in Wirklichkeit zeigt sich, dass Demokratie ein Luxus ist, den sich die Länder erst leisten können, wenn sie ein gewisses wirtschaftliches Niveau erreicht haben.”

Dies sei, so Ferguson, historisch die Regel, wenn auch mit Ausnahmen. Er hält ausserdem das Befolgen eines gesetzlichen Regelwerks für eine wichtigere Voraussetzung für eine Demokratie als das blosse Abhalten von Wahlen: “Auch Hugo Chavez lässt wählen…”.

Den Schweizern als Investoren und Exporteuren sei deshalb zu raten, nicht zu glauben, dass das dynamische Wirtschaftswachstum Asiens “wie ein Wunder automatisch” zu demokratischen Staatsformen führe, in denen Gerichte über die Garantie von Privateigentum und individuellen Freiheiten wachten. “Sogar das kleine Singapur ist auch heute noch weit davon entfernt, eine Demokratie zu sein.”

Ferguson warnt: Falls die chinesische Führung in den kommenden Jahren Schwierigkeiten bekomme, sein Wachstumstempo einzuhalten und mit seiner alternden Bevölkerung fertig zu werden, könne sich die Schweizer Aussenpolitik und die Wirtschaft gar auf eine Zeit einstellen, während der China wieder eine nationalistische Aussenpolitik einschlagen könnte.

Und der Finanzplatz Schweiz?

Mitte des 19. Jahrhunderts sei auch die Schweiz noch ein armes Land gewesen: “Ihr Pro-Kopf-Einkommen war damals halb so hoch wie jenes der Briten.“ Dass die Schweiz aber im 20. Jahrhundert derart zu Wohlstand gekommen sei, habe sie ausser der Diversifikation ihrer Wirtschaft auch der Offenheit ihrer Märkte zu verdanken.

Vor allem der Kapitalmärkte: “Zu Beginn der Finanzkrise war ich sehr besorgt über die Zukunft der Schweiz, angesichts des Gewichts der Banken an der Gesamtwirtschaft”, so Ferguson. “Doch es kam besser. Wobei es ein Rätsel bleibt, weshalb es die Schweiz mit ihren vergleichsweise riesigen Grossbanken geschafft hat, während andere, auch viel grössere Volkswirtschaften an der Last ihrer kaputten Banken fast kollabierten.”

Der Umstand, dass die Schweiz diesmal mit einem blauen Auge davon kam, sollte sie ermutigen, in der künftigen Bankenregulierung (Kapitalisierungsvorschriften) sehr streng und beispielshaft voranzugehen, um den Vorsprung zu erhalten. “Denn ich würde kein weiteres Mal darauf wetten, dass zum Beispiel die Grossbank mit dem ‘U’ in ihrem Namen eine weitere Krise übersteht.”

Kleine Banken – grosse Reputation

Ferguson meint, dass es künftig eher die kleineren Schweizer Banken sein sollen, auf deren Schultern die Reputation des Finanzplatzes Schweiz zu liegen komme: “Die gut kapitalisierten kleineren Institute, die privat geführt werden, waren in meinen Augen auch einer der Gründe, weshalb sich die Schweiz in der Finanzkrise so gut aus der Schlinge ziehen konnte.”

Gerade diese Banken könnten deshalb als Modelle für die nächste Generation von westlichen Finanzinstituten dienen.

Niall Ferguson, 46, ist Schotte und britischer Wirtschaftshistoriker.

Er ist Professor in Harvard und an der London School of Economics.

Er publiziert in den Medien und schreibt auch Bestseller über Themen, die sonst eher in akademischen Bücherschränken zu finden sind, wie zum Beispiel “The World’s Banker” oder “The Ascent of Money”.

Sein jüngstes Buch “Civilisation: The West and the Rest” will ein populäres und auch für die Jugend interessantes  Geschichtsbuch sein.

Denn Ferguson berät neben seinen Lehraufträgen und seiner Publikationstätigkeit auch das britische Erziehungs-Ministerium, wie Geschichte in den Schulen gelehrt werden soll.

Diese Woche ist in Interlaken das 13. Swiss Economic Forum zu Ende gegangen.

Das SEF sah sich zu Beginn als mittelständische Alternative zum Davoser WEF und versucht, Schweizer KMU und der Exportindustrie jährlich für sie relevante Schlüsselthemen und Networking zu vermitteln.

Am zweitägigen Anlass in diesem Jahr ging es um die Potenziale, die jeder bei sich selbst aufdecken kann.

Weitere Schlüsselthemen waren die Personenfreizügigkeit, die Machtverlagerung nach China und die Währungssituation rund um den starken Franken.

Die offenen Grenzen und Märkte innerhalb Europas beschworen auch Volkswirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann und der deutsche Aussenminister Guido Westerwelle.

Nicht nur Grossunternehmen, auch KMU sind auf hochqualifizierte und spezialisierte Mitarbeitende angewiesen, auch aus dem Ausland. Deshalb ist die Personenfreizügigkeit auch für KMU-Unternehmer von grosser Bedeutung.

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