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“In Tunesien habe ich nichts von Rache gehört”

Dick Marty ist beeindruckt von der Würde der Menschen in Tunesien. Keystone

Die Weltorganisation gegen Folter (OMCT) hat in Tunis eine Konferenz durchgeführt, um das Land bei der Überwindung des Unrechtsregimes zu unterstützen. Dick Marty, Vizepräsident der OMCT, weist auf die Herausforderungen hin, die das Land erwarten.

An den Gesprächen in der tunesischen Hauptstadt haben Vertreter der Regierung und der Zivilgesellschaft, sowie nationale und internationale Experten teilgenommen, um über Reformen zur Ausrottung von Folter und Übergriffen zu diskutieren.

Teilgenommen hat auch OMCT-Vizepräsident Dick Marty. Der Schweizer Politiker und ehemalige Staatsanwalt ist u.a. für seine Ermittlungen zu illegalen Aktivitäten des amerikanischen Geheimdienstes in Europa international bekannt geworden.

swissinfo.ch: Was hat Sie bei Ihrem Besuch in Tunis besonders beeindruckt?

Dick Marty: Ich war zum ersten Mal in diesem Land. Beeindruckt war ich von der Würde der Menschen, denen ich begegnet bin. Ich habe niemanden von Rache sprechen hören, obwohl Folter während Jahrzehnten praktiziert worden war.

Das ehemalige Regime hatte viele Menschen aus politischen Gründen ins Gefängnis gesteckt. Trotzdem habe ich keine Vergeltungsgelüste wahrgenommen, aber das Bedürfnis, die Wahrheit über das Geschehene und die Verantwortlichen zu erfahren. Viele Menschen haben das Verlangen, darüber zu sprechen, was sie erlitten hatten.

swissinfo.ch: Besteht der Wille, die Menschenrechte zu schützen, bei allen politischen Vertretungen?

D.M.: Meines Erachtens besteht ein Wille, gegen Folter anzukämpfen. Unser Zusammentreffen hat jedenfalls das Interesse der Regierung auf sich gezogen. Die Teilnahme des Ministers für Menschenrechte, Semir Dilou, der auch Regierungssprecher ist, sowie jene von Khalil Zaoula, des Ministers für Soziales, bestätigen dies.

Es ging darum, gemeinsame Überlegungen anzustellen und die Kräfte der tunesischen und internationalen NGO zu bündeln. Aber den grössten Teil der Aufgaben wird die tunesische Gesellschaft übernehmen. Wir können höchstens Anregungen machen, sofern wir danach gefragt werden.

Das heisst, es braucht ein starkes Engagement um mit den Jahrzehnte alten Praktiken aufzuräumen, in einem Land, in dem es nie eine Demokratie gegeben hatte. Ich habe Wert darauf gelegt, dass wir keine Lektionen erteilen wollen. In Tunesien – genau wie in der Schweiz auch – muss man jeden Tag für die Menschenrechte kämpfen.

swissinfo.ch: Sind seit dem Sturz von Ben Ali vor einem Jahr Fortschritte erzielt worden?

D.M.: Tunesien befindet sich in einer schwierigen Phase. Alles muss aufgebaut werden, und die Versuchung nach Vergeltungsmassnahmen ist nicht ausgeschlossen.

Die ersten demokratischen Wahlen in Tunesien vom letzten Oktober sind sehr korrekt verlaufen. Aber die Wahlbeteiligung lag nur bei rund 50 Prozent, und bei den teilnehmenden Gruppierungen standen sich eine organisierte Partei (die Islamisten von Ennahda) und Dutzende Listen mit Vertretern anderer Parteien gegenüber. Mit dem Resultat, dass die Islamisten von dieser Verzettelung profitieren konnten und 30 Prozent der Wähler im Parlament nicht vertreten sind.

Die Aufgaben zum Schutz der Menschenrechte sind gewaltig und die neue Regierung hat noch wenig Erfahrung und Sachverstand. Es ist zu wünschen, dass die Regierung und die Mehrheitspartei auf alle Ressourcen der tunesischen Gesellschaft zurückgreifen. Es wäre sehr beunruhigend, wenn sie Kräfte ausschliessen würden, die nicht der aktuellen Mehrheit angehören, wenn sie bei der Erarbeitung der neuen Verfassung oder in der Gesetzgebenden Behörde ohne die Dienste von ausgezeichneten Juristen und Anwälten auskommen wollten. 

Eine Befürchtung zeichnet sich in der Tat bereits ab, dass alle nur die nächsten Wahlen von 2014 als wichtigstes Ziel verfolgen. Tunesien braucht jetzt eine authentische nationale Einheit.

Ich erinnere mich, dass Italien nach dem Sturz von Mussolini eine Verfassung hatte, die förmlich von den wichtigsten politischen Kräften (Liberale, Christdemokraten und Kommunisten) unterzeichnet war. Dieser symbolische Akt war entscheidend für den Neubeginn des Landes.

swissinfo.ch: Sind die Islamisten von Ennahda zu einer solchen Öffnung überhaupt fähig?

D.M.: Diese Partei ist kein monolithischer Block. Es gibt verschiedene Strömungen, sowohl Extremisten wie auch Liberalere. Ausserdem macht die tunesische Gesellschaft, besonders die Frauen, nicht den Eindruck, sich in eine integristische Richtung lenken zu lassen. Ich glaube, Tunesien ist, was autoritäre Herrschaftsformen betrifft, in der Zwischenzeit genügend immun geworden.

Indem die islamistische Strömung respektiert wird, hilft man Tunesien insgesamt. Würde man Druck machen und ständig kritisieren, spielte das den Extremisten nur noch zusätzlich in die Hände.

swissinfo.ch: Tunesien muss gleichzeitig seine Gegenwart und Zukunft aufbauen und zusätzlich die Folgen der Vergangenheit bewältigen.

D.M.: Gewisse Kreise möchten gern einen Schlussstrich ziehen und beispielsweise eine Amnestie einführen. Ich glaube, dass dies nichts bringt. Denn die Vergangenheit steigt immer wieder an die Oberfläche.

Nach Jahrzehnten der Folter und der Missbräuche würde ein Auswischen der Auswüchse des Ben Ali-Regimes beim bestehenden Durst nach Gerechtigkeit nur einem Zünden von Zeitbomben gleichkommen.

swissinfo.ch: Macht die Schweiz im Bereich der Menschenrechte in Tunesien das Richtige?

D.M.: Ich habe mich mit Botschafter Pierre Combernous und seinen Mitarbeitenden getroffen, unter ihnen auch den Spezialisten für Menschenrechte. Ich fand ein sehr motiviertes Team vor.

Ausserdem geniesst die Schweiz eine ausgezeichnete Reputation, unter anderem auch dank der berühmten Rede von Samuel Schmid während der Eröffnung des UNO-Weltgipfels über die Informationsgesellschaft in Tunis im November 2005.

Die Tunesier sagen heute, dass die Schweiz damals öffentlich und spektakulär das Ben Ali-Regime unter Beschuss genommen habe, bevor es fiel, im Gegensatz zu seinen europäischen Nachbarn.

In Tunesien werde auch nach dem 14. Januar, als das alte Regime von Ben Ali fiel, weiter gefoltert.

Dies sagte der Minister für Menschenrechte und Regierungssprecher Semir Dilou an der Eröffnung der Konferenz, die von der Weltorganisation gegen Folter OMCT organisiert wurde.

“Das alte Regime ist untergegangen aber die Folter gibt es immer noch”, sagte Dilou, ein ehemaliger politischer Gefangener von Ben Ali.

Ein politischer Entscheid allein könne diese Praktiken nicht beenden, die zur Politik des Ben Ali-Regimes gehörten.

“Es braucht Zeit und viele Anstrengungen, damit alle Sicherheitsdienste das Gesetz respektieren und anwenden.”

Quelle: AFP

“Tunesien hat sich verpflichtet, die internationalen Normen zu respektieren, besonders die Konvention der Vereinten Nationen gegen die Folter und kürzlich auch das fakultative Zusatzprotokoll, das einen nationalen Vorbeuge-Mechanismus verlangt.

Für eine erfolgreiche Transition zu einer Demokratie ist es unumgänglich, gegen die Folter und schlechte Behandlungsformen zu kämpfen sowie ein effizientes System zur Vorbeuge aufzustellen.

Ein Verbot von Folter und ähnlichen Praktiken ist tief in der institutionellen Kultur der tunesischen Sicherheitskräfte zu verankern.

Es ist die Aufgabe der Konstituierenden Versammlung, über das Verbot von Folter und ähnlichen Praktiken zu wachen, Garantien aufzubauen und einen rechtlichen und institutionellen Rahmen zu schaffen, der effektiv Schutz bietet.”

Quelle: OMCT

(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle und Peter Siegenthaler)

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