Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Bergier-Bericht: Kooperation mit Nazis bestätigt – und relativiert

Kommissionspräsident Jean-François Bergier, flankiert von Generalsekretärin Myrtha Welti, Helen Junz und Georg Kreis. Keystone

Die unabhängige Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg (UEK) stellte am Donnerstag einen ersten Teil ihres Schlussberichtes vor. Ein neues Bild der Schweiz im 2.Weltkrieg schildern die Studien nicht. Ihre Stärke liegt im Aufzeigen der Komplexität der damaligen Situation.

Sensationelle Entdeckungen sind keine dabei. Ereignisse, Skandale, auf welche die Medien sich gerne stürzen, wurden keine präsentiert. Die Studien bestätigen vielmehr weitgehend das Bild der Schweiz, welches vorherrscht: Die Schweizer Wirtschaft hat mit dem NS-Regime eng kooperiert. Industrie, Handel, Stromunternehmen und Bahnen leisteten einen Beitrag an die Kriegswirtschaft der Achsenmächte. Die politischen und wirtschaftlichen Akteure hatten dabei vor allem das Wohl der eigenen Unternehmen respektive der Schweizer Landesversorgung im Auge.

Weniger wichtig als angenommen

Die Schweiz hat, versichert Historiker und Kommissions-Mitglied Jakob Tanner gegenüber swissinfo, gerade im Unternehmensbereich eng mit NS-Deutschland kooperiert; dennoch profitierte sie davon weitaus weniger als bisher angenommen. Die Schweiz war, so Tanner, vom wirtschaftlichen Potential her in verschiedenen Bereichen nicht derart wichtig wie vermutet.

Die Leistung der UEK – jener Kommission, die von 1996 bis 2001 im Auftrag des Bundesrates das Verhalten der politischen und wirtschaftlichen Schweiz vor und während des 2. Weltkrieges untersuchte – liegt darin, dass sie erstmals versucht, die Hintergründe differenziert darzustellen und die Komplexität der damaligen Situation näher zu beschreiben. “Wir zeigen Nuancen, versuchen zu verstehen, weshalb die Schweiz so bzw. so während des 2. Weltkrieges gehandelt hat”, fasst Historiker und Kommissionsmitglied Saul Friedländer die Arbeit der UEK zusammen.

Enge Kooperation

Acht Studien präsentierte die UEK am Donnerstag der nationalen und internationalen Öffentlichkeit. Das Interesse war gross, die Medienkonferenz gut besucht. Die acht Bände sind ein erster Teil des Schlussberichtes, der sich aus neun weiteren Studien sowie einigen ergänzenden Berichten zusammensetzt und Ende Jahr vollständig vorliegen wird. Zudem wird im Dezember 2001 zusätzlich die Synthese, welche den Gesamtkontext in groben Zügen umreisst, dem Bundesrat vorgelegt und im Frühjahr 2002 auch veröffentlicht.

Die acht Berichte handeln vor allem von den Wirtschafts- und Finanzbeziehungen der Schweiz zum NS-Regime. Thematisch geht es in diesem ersten Teil demnach hauptsächlich um wichtige Dienstleistungen, die die Schweiz den Achsenmächten geleistet hat. So behandelt beispielsweise ein Buch den schweizerischen Zahlungsverkehr mit Deutschland und Italien vor und während des 2. Weltkrieges. Ein anderer Band durchleuchtet die Beziehungen der Schweizer Chemieindustrie zum “Dritten Reich”. Das Agieren einiger ausgewählter schweizerischer Tochtergesellschaften (Brown, Boveri & Cie., Lonza AG, Nestlé, etc.) im nationalsozialistischen Deutschland und in den von ihm annektierten und besetzen Gebieten ist Thema eines weiteren Buches. Eine Zusammenfassung der einzelnen Bände findet sich auf der Homepage der UEK.

Fundgrube an Daten und Informationen

Bedeutsam sind die Bände auch als Quellensammlung, als Fundgrube an Daten und Informationen. Erstmals veröffentlichen sie Quellen, die bis anhin in Archiven privater Unternehmen aufbewahrt wurden und nicht für die Öffentlichkeit einsehbar waren. Dieser Aspekt gewinnt zudem noch an Wichtigkeit, wenn man weiss, dass die eingesehenen Akten bzw. die Kopien an die Unternehmen wieder zurückgegeben werden müssen und nicht in einem öffentlichen Archiv landen. Dies geht auf einen Bundesratsentscheid von diesem Jahr zurück. Das heisst auch, sofern der Bundesrat nicht anders entscheidet, dass die Akten ab 2002 nicht mehr dem Aktenvernichtungsverbot unterstehen.

Die Arbeit der UEK hat sich zu einer wissenschaftlichen Publikationsreihe ausgeweitet. Ein solch ambitioniertes Projekt ist wohl einzigartig in der Schweiz. Aber auch im Vergleich zum Ausland, wo in etwa 17 Ländern ähnliche Kommissionen tätig sind, steht die UEK vorbildlich da. Selten wurde, wie die amerikanische Historikerin Helen B. Junz an der Pressekonferenz betonte, derart differenziert geforscht und derart viel Quellenmaterial gesichtet. Dennoch ist die Geschichte der Schweiz im 2. Weltkrieg damit noch nicht geklärt: Viele Fragen bleiben offen – nicht zuletzt auch jene, auf welchen Kriterien die Themenauswahl der UEK basiert. Oder, um mit den Worten des Kommissionspräsidenten Jean-François Bergier zu enden: “Eine historische Untersuchung kann nie als abgeschlossen und definitiv betrachtet werden.”

Carole Gürtler

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft