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Mit Ahnenwissen und Hightech Mutter Erde retten

Kleinbäuerinnen und Kleinbauern mit der Agronomin Sonia Laura (Mitte) mit einer reichen Kartoffelernte. PROSUCO

Im Zeitalter der Satelliten und der Spitzentechnologien in der Landwirtschaft und zur Verhütung von Naturkatastrophen gewinnt das überlieferte Wissen der Menschen in den südamerikanischen Anden, das die so genannten Yapuchiris bewahren, wieder an Bedeutung.

In den Gemeinschaften der Einwohner in den bolivianischen Anden sorgen die so genannten Yapuchiris dafür, dass das Wissen ihrer Vorfahren nicht verloren geht und weiter angewandt wird. Sie beschäftigen sich nicht nur mit Wetterprognosen, sondern sie geben auch Ratschläge betreffend Saat- und Erntezeiten und selektionieren das Saatgut für die Gemeinschaft.

Der Yapuchiri muss ein guter Kenner des Wetters sein. Denn seine Vorhersagen bestimmen, wann, wie und was angepflanzt werden soll und ob vorbeugende Massnahmen nötig sind, etwa das Ausheben von Gräben.

Damit seine Prognosen möglichst genau sind, beobachtet er das Verhalten von Pflanzen und Tieren, die Winde sowie das Sternbild des Kreuz’ des Südens, wie dies schon die Ahnen getan hatten.

Dieses Ahnenwissen ist in den Programmen berücksichtigt, welche die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit des Bundes (Deza) seit 2005 in Bolivien zur Verminderung von Katastrophen- Risiken und zur Anpassung an den Klimawandel durchführt.

Man muss “lernen, mit Risiken umzugehen und angesichts der Möglichkeit von Naturkatastrophen für mehr Sicherheit sorgen”, betont Philip Puyo, stellvertretender Direktor der humanitären Hilfe der Deza in Bolivien.

2012 und 2013 litt das Land an Dürre, Frost und Hagel und die Schäden in der Landwirtschaft beeinträchtigten 30’000 Familien.

Die Schweizer Hilfe arbeitete mit dem Vizeminister für Zivilschutz und dem Weltprogramm für Ernährung zusammen, um den Opfern mit einem Notprogramm zu helfen. Diese Institutionen sind zusammen mit der Einheit für Notfall auf dem Land an der Erstellung eines Atlas für die Landwirtschaft beteiligt.

Wegen seiner geographischen Lage und den unterschiedlichen Klimaregionen (Anden, Täler, Tropen und Amazonas) ist Bolivien den Launen des Klimas ausgesetzt, die u.a. durch das Phänomen des El Niño und der La Niña (kalte und warme Meeresströmungen) verursacht werden. Es drohen Überschwemmungen, Dürre, Erdbeben, Frost, Brände und Erdrutsche.

Die humanitäre Hilfe der Deza benützt einen Grossteil ihres Bolivien-Budgets von 10 Mio. Franken zur Unterstützung der Programme zur Risikoverminderung von Katastrophen und zur Anpassung an den Klimawandel.

Die Unterstützung beschränkt sich jedoch nicht auf  Treffen mit lokalen Fachleuten und der Vermittlung von Wissen.

Seit vier Jahren wird ein Teil des Budgets zur Unterstützung eines Fonds für eine Landwirtschaftsversicherung verwendet. “Diese Versicherung soll den Kleinbauern eine neue Saat ermöglichen, falls sie ihre Anpflanzungen wegen Dürre, Hagel, Frost oder Überschwemmungen verlieren”, erläutert Puyo.

Für die Periode 2011-2014 unterstützt die Deza das Projekt der NGO Prosuko mit 700’000 Dollar.

“Falls die Wildenten ihre Eier ausserhalb der Seezone legen, bedeutet dies, dass es ein regenreiches Jahr wird. Wenn ihre Eier braune Flecken aufweisen, heisst dies, dass es Ende September oder anfangs Januar Frost gibt. Und wenn der Kirikiri (ein Verwandter des Kolibri) sein Nest 30 Zentimeter über dem Schilf am Seeufer baut, gibt es viel Regen und wir raten, in erhöhteren Lagen anzupflanzen”, erklärt der Yapuchiri Francisco Condori Alanoca gegenüber swissinfo.ch. Er stammt aus der Gemeinde Batallas in der Nähe des Titicaca-Sees.

Die Andengemeinschaften feiern im August mit verschiedenen Dankes- und Bittritualen den Monat der Mutter Erde, Pachamama genannt. Doch die Beobachtungen der Yapuchiris beginnen bereits am 19. März, erläutert Condori. “Nach der grossen Dürre und dem Frost von 2004 stützen wir uns wieder auf dieses Wissen unserer Vorfahren.”

“Keine Folklore, sondern Technik”

“Sie kennen sich bestens mit den auf Bio-Indikatoren begründeten Voraussagen aus und seit Urzeiten verwalten sie Raum und Zeit. Und sie wissen, dass sie in einem Regenjahr an den Hängen und während Dürrezeiten an sehr feuchten Orten anpflanzen müssen”, erklärt die Agronomin Sonia Laura die Rolle der Weisen. Laura arbeitet für Prosuko, eine Nichtregierungs-Organisation, die von der Deza und auch vom Hilfswerk Helvetas unterstützt wird.

Dank dieser Voraussetzung “arbeiten wir mit ihnen bei der Vorbeugung mittels Prognosen und Schadensbegrenzung zusammen und reagieren rechtzeitig”, wenn es zu Überschwemmungen, Dürre, Frost oder Hagel komme, welche die Subsistenzkulturen Kartoffeln, Quinoa, Mais, etc. teilweise oder ganz zu vernichten drohen.

Laut Sonia Laura geht es dabei nicht um Folklore, sondern um umfassendes Fachwissen: Wenn man aufgrund der Vogelnester oder Eier voraussagen kann, ob es regnen werde oder nicht, sehe man in der Tat, wie sich die Luftmassen um den Erdball oder die Stellung des Kreuz des Südens bewegten. “Das sind äusserst gültige und genaue Kenntnisse”, so die Expertin.

Diese Überzeugung ermöglicht, auf Nachhaltigkeit basierende agro-ökologische Strategien zu entwickeln und organische Dünger anstatt Chemie zu verwenden.

Die Kosmovision der Andenbevölkerung umfasst Gottheiten (Wakas) wie die Pachamama (Mutter Erde), die Natur (Sallqa) und die Menschen (Runas auf Quechua).

Die Menschen haben die Verantwortung, unter Anwendung der Prinzipien der Komplementarität und Reziprozität für das Gleichgewicht der drei Teile der Gemeinschaft zu sorgen. Ohne Gegenleistung kann man nichts verlangen.

Am 1. August begann der Monat der Pachamama (Mutter Erde). Die Yapuchiris oder Andenmeteorologen bringen an bestimmten Orten ihren Gottheiten Opfer dar. Die Weisen (Amautas)  sind in Dürrezeiten für die Bittgebete verantwortlich.

Mit GPS

Mit dem so genannten Pachagrama haben die Andenmeteorologen ein Instrument zur Hand, das dazu beiträgt, dass das überlieferte Wissen der Ahnen die ihm gebührende Bedeutung zurückgewinnt.

Auf einem Formular zeichnet der Yapuchiri das Wetterverhalten während mehrerer Monate auf, um es mit den Voraussagen zu vergleichen. Danach wird ein Übereinstimmungs-Index errechnet. Auch in bergigen Regionen haben viele Gemeinschaften Fernsehen und somit Zugang zu Wetterprognosen.

In Projekten wie jenen von Prosuko hat dies ermöglicht, die tradierten Kenntnisse mit dem neusten Wissensstand und den neuesten Technologien in Einklang zu bringen: Genutzt wird neben meteorologischem Fachwissen und dem Einsatz von GPS-Systemen auch eine Miniversicherung für die Bäuerinnen und Bauern, deren Berechnungen auf die Kenntnisse der Yapuchiris abgestützt sind.

Die Yapuchiris haben sich mittlerweile als Experten profiliert, die sich auf das Wissen ihrer Ahnen stützen, gleichzeitig aber auch Instrumente zur Messung von Regen und Säuregehalt des Bodens Erde einsetzen.

Fläche: 1’098’580 km2                                                                 

Bevölkerung: 10’088’000 Einwohner                                                                      

Bevölkerungswachstum seit 1990: 1,6% 

                                         

Lebenserwartung: Frauen 68,9 Jahre/Männer 64,4 Jahre

Analphabetismus-Rate: Frauen13,2/Männer 4,2%                                       

Bruttoinlandprodukt pro Kopf: 2374 Dollar 

                                               

(Quelle: Weltbank)

“Unsere Aufgabe ist es, Fachwissen zur Verfügung zu stellen, das Innovationen und Forschungen fördert, die nicht immer eine wissenschaftliche Grundlage haben, aber dafür der Situation angepasst sind. Einen Universitätsabschluss zu haben, lässt sich nicht mit dem Leben und der Erfahrung des Ackerbaus und den Bemühungen zur Bekämpfung von Frost oder Überschwemmungen vergleichen”, betont Sonia Laura.

Dank diesem Ansatz werden auch alte Anbau- und Bewässerungssysteme wie die so genannten Suka Kollus wieder entdeckt. Das sind künstlich erhöhte Anpflanzungsbeete, die von einem Kanalsystem zur Regulierung von Temperatur und Feuchtigkeit der Erde umgeben sind. Fällt zu viel Regen, kann das Wasser abfliessen, bleibt er in einer Dürreperiode aus, speichert die Erde im Beet Feuchtigkeit.

Dieses auch als Kamm bekannte Anbausystem wird immer mehr in tiefer gelegenen Gebieten angewandt, wo Überschwemmungen und Erdrutsche häufig sind.

(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)

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