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Die politische Mitte splittert sich zusehends auf

Das Wachstum der kleinen politischen Parteien dürfte das politische Leben im Bundeshaus komplizierter werden lassen. (Keystone) Keystone

Die Grünliberale Partei und die Bürgerlich-Demokratische Partei der Schweiz dürften im Herbst als Sieger aus den eidgenössischen Wahlen hervorgehen. In der politischen Mitte bietet die Zersplitterung auch neue Möglichkeiten, sagt Politologe Daniel Bochsler.

In den 1990er -Jahren war die Schweizer Politik von einer zunehmenden Rechts-Links-Polarisierung gekennzeichnet. Nur sechs Monate vor den Eidgenössischen Wahlen vom 23.Oktober 2011 zeichnet sich hingegen als neuer Trend die Aufsplitterung der politischen Mitte ab. 

Die Ergebnisse der Kantonswahlen der vergangenen Jahre sowie die Meinungsumfragen zeigen auf, dass die historischen Mitte-Parteien – die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) sowie die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) – zunehmend Wählerstimmen an zwei kleine, aber aufstrebende Parteien abgeben müssen: Die Grünliberale Partei (GLP) sowie die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP).

Was bedeutet diese Entwicklung? Darüber sprach swissinfo.ch mit dem Politologen Daniel Bochsler von der Universität Zürich.

swissinfo.ch: Meinungsumfragen lassen darauf schliessen, dass die Grünliberalen und Bürgerlichen Demokraten bei den kommenden Wahlen stark zulegen werden. Wie erklären Sie sich diesen Trend?

Daniel Bochsler: Diese Parteien bieten den Wählerinnen und Wählern nicht fundamental neue Ansätze. Eine gewisse Ausnahme bilden vielleicht die Grünliberalen mit ihrer ökologischen Orientierung.

Beide Parteien stellen aber für diejenigen Wähler eine Alternative dar, die mit der FDP und CVP nicht mehr zufrieden sind. GLP und BDP bieten die Möglichkeit, eine neue Partei zu wählen, ohne dass der Wähler eine radikal neue Position beziehen muss.

swissinfo.ch: Kann die Aufsplitterung der politischen Mitte auch als Zeichen gelesen werden, dass FDP und CVP sich den gesellschaftlichen Veränderungen nicht anzupassen wissen?

D.B.: Ganz sicher. FDP und CVP haben in jüngster Zeit keine klaren Signale gesendet, in welche Richtung sie gehen wollen. Nehmen wir zwei Beispiele wie die Bankenreglementierung oder Atomkraftwerke.

Einmal sind sie für eine stärkere Reglementierung, dann wieder nicht.

Dasselbe zeigt sich bei der Atompolitik: Hüst und hott. Diese Parteien haben natürlich auch einen strategischen Nachteil, weil sie über mehrere Exponenten verfügen. Die kleinen Parteien der Mitte werden von wenigen Politikern vertreten und diese verfügen über einen Startbonus an Glaubwürdigkeit.

FDP und CVP bezahlen heute sicherlich auch einen Preis dafür, dass sie lange in der Regierung die Schweizer Politik bestimmt haben. Vom unzufriedenen Teil der Wählerschaft werden sie als Verantwortliche für diejenigen Dinge gesehen, die vielleicht nicht so gut laufen. Hier denke ich etwa an die Krisen des Bundesrats, der intern zerstritten ist und unter Glaubwürdigkeitsproblemen leidet.

swissinfo.ch: Wie gefährlich ist diese Aufsplitterung für die Schweizer Politik? Manche reden schon von “israelischen Zuständen”.

D.B.: Ich sehe keine Gefahr, dass die Schweiz nicht mehr regierbar wäre. Es handelt sich ja um zyklische Phänomene. Auch in der Vergangenheit standen kleine Parteien in der politischen Mitte, wie den “Landesring der Unabhängigen”, in der Wählergunst, die dann wieder verschwanden.

Die vermeintlichen Erfolge von GLP und BDP muss man auch kritisch betrachten. Einige Wähler haben eine entsprechende Wahlabsicht bekundet, ohne dass diese Parteien überhaupt in den jeweiligen Kantonen präsent sind.

swissinfo.ch: Sollten GLP und BDP aber je zehn Sitze im Nationalrat erobern, wie diese beiden Parteien hoffen, würde es schwieriger, Allianzen zu schmieden.

D.B.: Dies trifft teilweise zu. Einerseits kann man sich schwer vorstellen, dass die Parteien der Mitte zu einer grossen Allianz fähig sind, weil sie sich alle profilieren und damit von den anderen unterscheiden wollen. Jene, die Allianzen suchen, werden, wie auch die Lobbyisten, in Zukunft gezwungen sein, mit viel mehr Leuten zu verhandeln.

Andererseits können sich durch die Zunahme an Parteien in der Mitte möglicherweise interessante neue Möglichkeiten herauskristallisieren. So könnte es sein, dass in Absprache mit rechten oder linken Kräften plötzlich Mehrheiten für Gesetze vorhanden sind, die bisher undenkbar waren.

swissinfo.ch: Wie erklären Sie sich, dass auf der Linken die SP in fast allen kantonalen Urnengängen verloren hat? Warum können die Sozialdemokraten nicht von der Finanzkrise “profitieren”? Und warum geben sie Wähleranteile an die Grünen ab?

D.B.: Die SP vermag mit ihrer Sozialpolitik die einkommensschwachen Klassen nicht mehr zu mobilisieren, weil sich die wirtschaftlichen und industriellen Verhältnisse in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt haben.

Die SP ist zu einer Partei geworden, die sich zunehmend an postmateriellen Werten orientiert, etwa Frieden, Ökologie oder Rechte von Minderheiten. Damit ist eine Konkurrenz zu den Grünen entstanden, die für ähnliche Werte einstehen.

Die SP verliert einerseits ihre alte, gewerkschaftlich orientierte Basis, während es für Jungwähler eigentlich egal ist, ob sie rot oder grün wählen. Angesichts der Aktualität von Umweltthemen liegen die Vorteile bei den Grünen.

swissinfo.ch: Gemäss den Meinungsumfragen und Ergebnissen bei Kantonalwahlen schwingt die SVP einmal mehr oben aus. Gibt es für die nationale Rechte noch Potential?

D.B.: Ich denke schon. Vor allem in ländlichen, konservativen und katholischen Gebieten. Bei Volksabstimmungen, etwa zu Ausländerfragen, konnte man sehen, dass viele Personen gemäss SVP-Parole abstimmen, obwohl sie eigentlich diese Partei nicht wählen.

Auch bei Personen, die Angst haben, dass sie in Folge der Öffnung der Schweiz gegenüber Europa Nachteile haben werden, gibt es Potential für die SVP. Denn diese Personen haben das Gefühl, dass die SVP die einzige Partei ist, die ihre Interessen vertritt und für die nationale Identität eintritt.

Daniel Bochsler wurde 1978 in Bern geboren. An der Universität Bern schloss er 2003 mit einem Master in Politikwissenschaften ab. 2008 promovierte er an der Uni Genf.

Zwischen 2003 und 2010 hat er eine Reihe von Forschungsarbeiten zu Fragen des Föderalismus, der direkten Demokratie und den Demokratisierungsprozessen in den ehemaligen kommunistischen Staaten Osteuropas verfasst.

Seit diesem Jahr ist er Assistenz-Professor an der Fakultät für Politikwissenschaft der Universität Zürich und Mitarbeiter des dortigen Forschungszentrums für Demokratie (NCCR) sowie des Zentrums für Demokratie in Aarau (ZDA).

Resultate der grössten Schweizer Parteien bei kantonalen Urnengängen in den vergangenen vier Jahren:

 

SVP: legt in 14 Kantonen zu; in 7 hat sie Wähler verloren

 

SP: +2;-19

 

FDP: +3; -18

 

CVP: +4;-17

 

Grüne: +14;-4

 

Grünliberale: Zuwachs im Kanton Zürich; in weiteren 9 Kantonen traten sie erstmals zu Wahlen an

 

BDP: präsentierte sich erstmals in 6 Kantonen zu Wahlen

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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