Der vom Parlament angenommene Gegenvorschlag zur "Wiedergutmachungsinitiative" mit einem Fonds von 300 Millionen Franken für die Opfer von Zwangsmassnahmen schliesst nicht nur ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte. Er zeigt auch, dass der Erfolg einer Volksinitiative nicht nur an den Urnen gemessen wird.
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Was genau macht die Volksinitiative aus? Ist sie ein Unikum oder hat sie Verwandte in anderen Ländern? Die swissinfo.ch-Animation gibt die Antworten.
Nachdem das Parlament heute definitiv dem Gesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 zugestimmt hat, zieht das KomiteeExterner Link seine “WiedergutmachungsinitiativeExterner Link” offiziell zurück. Sofern nicht das Referendum gegen das Gesetz ergriffen wird, kommt die Volksinitiative also nicht vors Volk, da die Initianten ihr Anliegen durch das Gesetz erfüllt sehen.
Ebenfalls heute zurückgezogen wurde die Initiative “Für eine sichere und wirtschaftliche Stromversorgung (Stromeffizienz-Initiative)”, deren Zweck mit der so genannten “Energiestrategie 2050” beziehungsweise dem revidierten Energiegesetz erreicht wurde. Das Initiativkomitee schreibt in einer Mitteilung, dass es nicht darauf ankomme, ob das angestrebte Ziel in der Verfassung oder einem Gesetz verankert werde, Hauptsache es werde verwirklicht.
30% werden zurückgezogen
Die “Wiedergutmachungsinitiative” ist damit die 96. von 321 zustande gekommenen InitiativenExterner Link, die von den Initianten seit 1891 (als das Instrument der Volksinitiative eingeführt wurde) freiwillig zurückgezogen wurde.
In 67 Fällen erfolgte der Rückzug zugunsten des direkten oder indirekten Gegenvorschlags (vgl. Box). In sechs Fällen schaffte der Gegenvorschlag dann allerdings die Hürde der Urnen nicht.
In den anderen 29 Fällen sind die Gründe nicht angegeben. Meistens handelt es sich um Fälle, in denen das Parlament in der Zwischenzeit Gesetzesänderungen vorgenommen hatte, welche in die von der Volksinitiative gewünschte Richtung gingen.
Sieben Initiativen wurden seit 1891 in Volksabstimmungen verworfen, während der direkte Gegenvorschlag angenommen wurde.
Diese Zahlen zeigen klar, dass die Wirkung dieses Instruments der direkten Demokratie weit über das Ergebnis von 22 angenommenen Initiativen während 125 Jahren geht (was einem Verhältnis von 10% entspricht).
Jährlich zustande gekommene Initiativen von 1892 bis 2015
Schwankende Erfolgsrate
In seiner politologischen Masterarbeit hat Pierre-Michel Cotroneo die Erfolgsraten von Volksinitiativen während vier Zeitperioden berechnet. Obwohl in den Jahren 1999-2015 ganze 9 Initiativen in Volksabstimmungen angenommen wurden, beträgt die Erfolgsrate nur 37,8%. In den Jahren1892-1933 beträgt sie 40,74% (6 angenommene Initiativen) und in den Jahren 1934-1973 mit nur einer angenommenen Initiative 52,5%. Die tiefste Rate (29,2%) wurde in den Jahren 1974-1998 mit 5 angenommenen Initiativen erreicht.
Um die Gründe dieser Schwankungen zu erfahren, braucht es weitere Analysen. Aber eine Sache ist sicher, stellt Cotroneo fest: “Die Erfolgsrate hängt nicht mit der Anzahl zustande gekommener Initiativen zusammen.”
Wie aber wirkt sich ein Gegenvorschlag auf die Rate der in Volksabstimmungen angenommenen Initiativen aus? Cotroneo sagt, wenn das Ziel der Initianten mit einer sachgerechteren Gesetzes- oder Verfassungsänderung erreicht werden könne, sei es im Interesse aller, diesen Weg zu verfolgen. Allerdings tendieren Regierung und Parlament seit den 1970er-Jahren dazu, diesen Weg weniger zu verfolgen. In der Folge hat sich der Anteil der zustande gekommenen Initiativen, die tatsächlich an die Urne gelangen, erhöht.
Direkter und indirekter Gegenvorschlag
Wenn das Parlament das Anliegen einer Volksinitiative anerkennt, die vorgeschlagene Lösung aber nicht gut findet, kann es einen Gegenvorschlag machen.
Dieser kann direkt sein, das heisst auf Verfassungsstufe geregelt werden. Wie bei einer Initiative braucht es dann das doppelte Mehr von Volk und Ständen (die Mehrheit der Stimmberechtigten sowie die Mehrheit der Kantone muss zustimmen).
Die beiden Vorlagen werden gleichzeitig zur nationalen Abstimmung gebracht, zusammen mit einer Stichfrage: Welcher der zwei Vorschläge soll in Kraft treten, falls beide angenommen werden?
Der indirekte Gegenvorschlag schlägt eine Alternative auf Gesetzesebene vor. In diesem Fall kommt die Vorlage nur vors Volk, wenn gegen den Vorschlag ein Referendum ergriffen wird. Zudem braucht es für die Annahme bloss das Volksmehr.
(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)
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