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Gotthard-Eisenbahntunnel – Wunder der direkten Demokratie

Mineure – die Erbauer des 1882 eröffneten Gotthardeisenbahntunnels. 1875 wurden vier von ihnen bei einem Streik erschossen. Ihr Jahrhundertbauwerk war Ausgangspunkt wichtiger Impulse für Einführung und Weiterentwicklung der direkten Demokratie in der Schweiz. sbb

Die Schweiz baute mit dem neuen Gotthard-Basistunnel nicht nur den längsten, sondern auch einen der teuersten Eisenbahntunnel der Welt. Am 11. Dezember wird der fahrplanmässige Betrieb aufgenommen. Dass die Bevölkerung dem Milliardenprojekt zugestimmt hat, und das gleich mehrmals, ist ein "Wunder der direkten Demokratie".

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In einer direkten Demokratie wie der Schweiz haben es Grossprojekte besonders schwer. Denn das Stimmvolk kann den Initianten mittels Referendum einen Strich durch die Rechnung machen.

Umso grösser war die Freude, als im vergangenen Juni der Schweizer Bundespräsident Johann Schneider-Ammann den neuen, 57 Kilometer langen Gotthard-Eisenbahntunnel, der genau genommen aus zwei Röhren besteht, offiziell eröffnete. Der Einweihung wohnten zahlreiche europäische Staats- und Regierungschefs bei wie auch ein riesiger Tross von Medienleuten. Das internationale Echo fiel durchwegs positiv aus – zahlreiche Kommentatoren feierten das Ereignis explizit als Erfolg der direkten Demokratie der Schweiz.

Der Historiker Georg KreisExterner Link von der Universität Basel spricht im Zusammenhang mit der – zeitgerechten – Vollendung des “Jahrhundertbauwerks” nicht nur von “Wunder” und “Sieg”. Kreis bezeichnet es auch als “Glück”, dass der längste Tunnel der Welt von der Schweizer Stimmbevölkerung mit fast 64% befürwortet worden war. Normalerweise habe das Volk die Tendenz, Projekte von “Technokraten”, “Finanzbaronen” und Regierung zu verhindern, weil man gegen das sei, was “die da oben” machten.

Der neue Gotthard-Basistunnel

Der Gotthard-Basistunnel ist die erste alpenquerende Eisenbahnverbindung ohne nennenswerte Steigungen. Er verkürzt die Reisezeit zwischen Zürich und Mailand um eine halbe Stunde. Am 1. Juni 2016 wurde der 57 km lange Tunnel eingeweiht.

Der Bau dauerte 17 Jahre und kostete 12 Milliarden Franken. Der Basistunnel ist Teil der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (Neat). Am 11. Dezember 2016 wird der fahrplanmässige Betrieb des Gotthard-Basistunnel aufgenommen.

Nicht so beim Gotthard: 1992 gab das Stimmvolk grünes Licht für ein mit 10 Milliarden budgetiertes Gesamtprojekt. Dessen Name: Neue Eisenbahn-Alpentransversale oder kurz Neat. Sein Herzstück: eine neue Eisenbahnröhre durch die Alpen, mit der die Züge kaum mehr Höhe überwinden müssen.

1998 genehmigten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sogar eine Erhöhung des Budgets auf 15,5 Milliarden. Aktuell belaufen sich die Kosten auf fast 24 Milliarden, davon 12 Milliarden Franken für den Gotthard-Basistunnel.

Dass der Gotthard-Tunnel trotz direkter Demokratie verwirklicht werden konnte, liegt unter anderem an der für die föderalistische Schweiz typischen Kompromissbereitschaft zwischen den Regionen: Man beschränkte sich beim Gotthard-Projekt nicht allein auf die Zentralachse, sondern kam der Westschweiz mit der Lötschberg-Linie und der Ostschweiz mit kleineren Verbesserungen der Zufahrten entgegen.

Ein weiteres Beispiel: Weil der Kanton Uri vergeblich eine Verlängerung des Gotthardtunnels bis zum Urnersee gefordert hatte, baute man als Zeichen des guten Willens einen Voranschluss im Tunnel, falls er doch mal verlängert werden sollte.

Erfolgsrezept: Opposition integrieren

Generell lässt sich sagen: Die Angst vor einem erfolgreichen Referendum führt in einer direkten Demokratie wie der Schweiz dazu, dass Grossprojekte wie der Gotthard-Basistunnel von Anfang an auf kooperative Art angepackt werden.

“Die Absicht der Behörden, eine abstimmungsfeste Vorlage zu machen, verkompliziert die Sache, mässigt aber die Opposition”, sagt der Politikwissenschaftler Claude LongchampExterner Link. “Ohne Volksabstimmung wäre die Vorbereitung der Neat vielleicht einfacher und damit kostengünstiger gewesen. Aber es wäre wie bei allen Grossbauten zu einer erheblichen Opposition gekommen.”

Josef Zemp, vom Anwalt der Eisenbahngegner direkt in den Bundesrat. wikipedia

Das führt uns zum zweiten Geheimnis, wie der Gotthard-Tunnel trotz direkter Demokratie verwirklicht werden konnte: Die Integration der Opposition. “Die direkte Demokratie integriert vorausschauend denkbare Opposition und verhindert mit diesem Mechanismus die mögliche Blockade grosser Vorhaben”, erklärt Longchamp.

Ein weiteres Beispiel für diese erfolgreiche Strategie stammt ebenfalls aus der Eisenbahngeschichte der Schweiz: die Verstaatlichung der Schweizer Eisenbahnen. 1891 scheiterte dieses Vorhaben in einer ersten Volksabstimmung, was den Rücktritt des Eisenbahnministers zur Folge hatte. Um eine Regierungskrise zu verhindern, wurde Josef ZempExterner Link, der Anwalt der Eisenbahngegner, in den Bundesrat gewählt.

In dessen Amtszeit wurde schliesslich im Jahr 1898 die Verstaatlichung der fünf grossen Eisenbahngesellschaften von den Schweizer Stimmbürgern angenommen. “Politologen sind der Meinung, dass die werdende direkte Demokratie ein Grund war, die vormalige Opposition zu integrieren”, erklärt Longchamp.

Laut dem Berner Politikforscher und Historiker gab es in der Schweiz des 19. Jahrhunderts allgemein einen engen Zusammenhang zwischen der Eisenbahngeschichte und der Entwicklung von der repräsentativen zur direkten Demokratie. Als weiteres Beispiel nennt er die Zeit der demokratischen Bewegung um 1860. “Diese popularisierte die Volksrechte aufgrund der negativen Erfahrungen mit dem Petitionsrecht.”

Mit anderen Worten: Weil das Petitionsrecht offensichtlich nicht ausreichte, kam die Idee eines Referendums auf. “Massgeblich war dabei die Planung der Eisenbahnlinie zwischen Bern und Biel, die sehr umstritten war. Die Opposition erhob hier 1862 als eine der ersten überhaupt die Forderung nach einem Referendum”, sagt Longchamp.

1874 wurde das fakultative Referendum schliesslich in der Bundesverfassung verankert. Es änderte laut Longchamp die Spielregeln der parlamentarischen Demokratien.

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