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Eiszeit – schleichende Todesgefahr für Obdachlose

Nicht alle Obdachlosen wollen eine warme Suppe, auch wenn sie umsonst ist. Pixsil

Klirrender Frost hat Europa fest im Griff. In Bern sorgen Silvio Flückiger und sein Pinto-Team auf "Kältepatrouillen" dafür, dass Clochards an ein warmes Plätzchen kommen. Nicht alle wollen das, sagt der Teamleiter.

Vom Nordkap bis Kalabrien, von Marseille bis Warschau: Europa steckt tief unter einer Glocke eisiger Kälte. Wintersportler frohlocken, Clochards drohen zu erfrieren.

Polen meldete am Donnerstag das 76. Kälteopfer des Winters. Je zwei Erfrorene waren diese Woche in Deutschland und Frankreich zu beklagen. Anfang Winter starb in Zürich ein Mann infolge Kälte.

Pinto steht für Prävention, Intervention, Toleranz. Die neun Mitarbeiter des Projekts der Stadt Bern sind momentan besonders gefordert, präventiv zu intervenieren. Denn der beissende Frost geht auch den rund fünfzehn Obdachlosen in der Bundesstadt buchstäblich ans Lebendige.

Dabei ist Bern in der komfortablen Lage, mit 215 Betten in fünf Institutionen über genügend Notschlafplätze zu verfügen.

swissinfo: Rund ein halbes Dutzend Obdachlose verbringt die Nacht in Bern lieber draussen als in einer Notschlafstelle. Wer sind diese Leute?

S.F.: Jene, die alle Hilfestellungen verweigern, sind häufig drogen- oder alkoholabhängig oder haben psychische Probleme.

Sie fühlen sich an den Rand gedrängt und rutschen in die Obdachlosigkeit ab, weil sie zum Beispiel schlechte Erfahrungen mit staatlichen Behörden gemacht haben. Sie schaffen sich als Obdachlose einen Lebensraum, in dem sie sich nach eigener Auffassung frei bewegen können. Deshalb akzeptieren sie auch minimalste Regeln nicht.

Vertreten sind alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen. Die meisten stammen aus der Schweiz; es sind grösstenteils Männer. Frauen finden eher eine Kollegin oder einen Kollegen, bei dem sie unterkommen. Manche übernachten auch bei einem Freier.

swissinfo: In grossen Städten Europas sammeln Organisationen in der aktuellen Kältewelle abends Obdachlose ein und führen sie in geheizte Notunterkünfte. Wie gehen die Pinto-Mitarbeiter in Bern vor?

S.F.: Bei unseren nächtlichen Rundgängen sprechen wir Obdachlose an und versuchen sie zu motivieren, geschützte Räume aufzusuchen. Weil die Vermittlungsmöglichkeiten tagsüber besser sind, versuchen wir, auch tagsüber an sie zu gelangen. In einer kleinen Stadt wie Bern ist das einfacher.

swissinfo: Bei ihrer Arbeit ist Fingerspitzengefühl gefragt. Was noch?

S.F.: Hohe Sozialkompetenz und keine Berührungsängste gegenüber diesen Menschen. Es gibt kein genaues Vorgehen beim Ansprechen, so verschieden die Menschen sind, so verschieden gehen wir auf sie zu.

Wir thematisieren die Situation und den Grund ihrer Obdachlosigkeit. Dann schauen wir, ob die Person bereit ist mitzukommen, denn dies ist freiwillig. Wir können niemanden zwingen, in ein Haus oder eine Institution zu gehen.

swissinfo: Wie reagieren die Obdachlosen?

S.F.: Meist positiv. Kürzlich ist es aber vorgekommen, dass wir jemanden aufgesucht haben, der obdachlos ist und dies auch bleiben will. Er reagierte negativ, weil er Angst vor einer Zwangseinweisung hatte. Obwohl wir keine solchen vornehmen, ist dieser Mann praktisch vor uns geflüchtet.

swissinfo: Was machen Sie, wenn jemand partout nicht an einen geschützten Ort will?

S.F.: Wenn wir sehen, dass jemand nicht entsprechend ausgerüstet ist, erhält er von uns einen wintertauglichen Schlafsack. Ist jemand stark unterkühlt, bringen wir die Person in ein Restaurant oder in unser Büro, wo es eine warme Mahlzeit oder ein warmes Getränk gibt.

swissinfo: Pinto arbeitet mit der Polizei zusammen – wann schalten Sie diese ein?

S.F.: Wir sind keine eigentliche Vorhut der Polizei, da wir nicht die selben Aufgaben haben und auch unsere Aufträge nicht von der Polizei erhalten. In bestimmten Fällen arbeiten wir aber mit der Polizei zusammen.

Bei Obdachlosen nur dann, wenn wir sehen, dass eine Person stark selbstgefährdet ist. Dies ist dann der Fall, wenn wir davon ausgehen müssen, dass sie die Nacht nicht übersteht oder nur mit bleibenden Schäden, sich aber weigert, uns zu einer Institution zu begleiten. Dann ist im Sinne des Schutzes dieser Person der Beizug der Polizei angezeigt.

Diese kann Obdachlose aber ins Inselspital begleiten, wo Ärzte und Psychologen einen medizinischen, fürsorgerischen Freiheitsentzug aussprechen können.

swissinfo: Sind obdachlose Randständige ein “normales” Phänomen oder sind es Verlierer der kompetitiven Gesellschaft?

S.F.: Obdachlosigkeit hat es schon immer gegeben. Die Gründe dafür sind sehr verschieden. Aktuell handelt es sich allerdings schon um Menschen, die mit der Geschwindigkeit und der Leistungsgesellschaft nicht mitkommen.

swissinfo: Gibt es so etwas wie eine Obdachlosen-Karriere?

S.F.: Die Erfahrung zeigt, dass nur wenige während längerer Zeit obdachlos sind. Die meisten sind ein, zwei Nächte draussen, dann kommen sie wieder bei Kollegen, Verwandten oder Bekannten unter.

Ziel unserer Arbeit ist es, die Menschen von der Gasse wegzuführen. Auch wer längere Zeit dort lebt, kommt früher oder später wieder in eine geregelte Situation mit einem Dach über dem Kopf und einer Tagesstruktur, so dass sie sich von der Obdachlosigkeit verabschieden können.

swissinfo-Interview, Renat Künzi

Obdachlose, die Drogen oder Alkohol konsumiert haben, sind besonders vom Kältetod bedroht.

Schlafen sie draussen ein, sinkt die Körperkerntemperatur von rund 37 Grad ab.

Bei 35°C spricht man von Untertemperatur (Hypothermie), bei 33°C von Unterkühlung. Ab 27 °C liegt die unterste Grenze, die zum Tod führt.

Ebenfalls gefährdet sind Menschen mit psychischen Problemen, wenn ihr Kälteempfinden beeinträchtigt ist.

Das Projekt wurde 2005 gegründet und ist dem städtischen Jugendamt angegliedert.

Die neun Teammitglieder, die sich in 580 Stellenprozente teilen, arbeiten nach dem Prinzip der aufsuchenden Sozialarbeit.

Diese richtet sich an Personen “auf der Gasse” ohne Zugang zu sozialen Institutionen, die aber eine niederschwellige Beratung benötigen.

Das Team versieht auch Ordnungsdienste, indem die Mitarbeiter untolerierbares Verhalten wie etwa Drogenkonsum im öffentlichen Raum unterbinden.

Weitere Schwerpunkte sind Präventionsarbeit mit Jugendlichen und Mediation zwischen Konfliktparteien.

Weil Bern nur relativ wenige Obdachlose zählt, sind diese den Pinto-Mitarbeitern meist bekannt.

In der Bundesstadt bilden fünf Tages-Aufenthaltsräume sowie ein Restaurant ein soziales Kontrollnetz. Dieses ist wichtig, um Randständige in schlechtem Gesundheitszustand zu erkennen und ihnen medizinische Hilfe zukommen zu lassen.

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